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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Gläsern. Das geht ja gar nicht.« Sie stellte die schmutzigen Gläser neben die Spüle.
    Dann entdeckte sie Spinnweben hinter den Fensterläden und ein weißes, rundes Spinnennest unter dem Sessel.
    »Erledige das«, sagte sie zu Cecilia, »dann fege bitte noch die Terrasse, und anschließend kannst du die Weinflaschen spülen.«
    Cecilia knurrte noch einmal, und Christine wertete es als Zustimmung.
    Sie stieg hinauf in den Turm, wollte noch einen Moment Ruhe haben, bevor die ersten Mittagsgäste kamen.
    Die oberen Turmzimmer liebte sie am meisten. Das waren Schlafzimmer, Wohnzimmer und Bad. In beiden Räumen gab es fast nur Fenster, daher bewahrten Christine und Karl ihre Sachen in einem Schrankzimmer ein Stockwerk tiefer auf.
    Es war ein Traum, aus dieser Höhe über das weite Land zu gucken, hier konnte sie durchatmen, hier kam sie zur Ruhe, es war Balsam für die Seele.
    Christine öffnete das Fenster weit und sah hinunter in den Hof. Stella und Paola saßen immer noch am Tisch, aber jetzt spielten sie Mensch-ärgere-dich-nicht auf Italienisch .
    Ein warmer Sommerwind wehte durchs Zimmer. Die leichten, seidigen Vorhänge blähten sich auf. Christine spürte, wie glücklich sie war. Sie hatte ihren Frieden gefunden, und dieses Castelletto bewirtschaften und bewohnen zu dürfen, empfand sie als ein Geschenk.
    Es gab viele Tage, von denen Christine glaubte, sie nie in ihrem Leben vergessen zu können, und dieser war einer davon.
    Neun Jahre nach Svenjas Tod, an einem Tag Anfang Mai, war Christine erstmals wieder in der Lage, den Frühling wirklich zu genießen. Sie nahm alles um sich herum bewusst zur Kenntnis: Die Schafe lammten unentwegt, überall sah man kleine Lämmer über die Weiden springen, der Raps begann zu blühen, und die Kastanien explodierten geradezu. Über Nacht stülpten sich riesige grüne Blätter aus ihren Knospen, die sich in wenigen Tagen komplett entfalteten. Im ganzen Land roch es nach Gülle, die auf den Feldern ausgebracht worden war, aber Christine störte es nicht. Im Gegenteil. Ihre Großmutter hatte immer gesagt: »Das riecht nach gesunder Landluft.« Und seitdem hatte Christine kein Problem mehr damit.
    Karl kam gegen fünf.
    Die Sonne hatte immer noch Kraft und tauchte die Ostfront des alten friesischen Hauses in warmes, gelbes Licht, als Christine seinen Wagen die Auffahrt herauffahren hörte.
    Er war ungewöhnlich früh. Sie hatte ihn erst in vier Stunden erwartet.
    Sie stand in der offenen Tür, als er aus dem Auto stieg.
    »Was ist los?«, fragte sie. »Wieso bist du schon da?«
    »Feierabend«, antwortete er knapp. »Ich bin entlassen. Wegen meiner Beziehung zu Diana. Ein Prof und eine Studentin – das geht eben nicht. Du weißt, dass das Damoklesschwert über mir schwebte, jetzt ist es passiert.«
    Er war so erschreckend drastisch und direkt. Keine Schnörkel, keine Ausflüchte, keine Beschönigungen.
    Er konnte einem leidtun.
    »Komm rein«, sagte sie nur.
    Zwei Stunden später saßen sie sich schweigend gegenüber. Das Abendbrot hatte Christine aufgetischt, aber nach einer halben Stunde wieder weggeräumt, weil niemand etwas essen wollte.
    »Du weißt, dass meine Affäre mit der Studentin vorbei ist.«
    »Mit Diana. Ja.«
    »Ja, mit Diana.« Karl war hochgradig genervt.
    »Dann sag doch Diana. Das hört sich irgendwie normaler an.«
    »Mein Gott, gut, ja. Also: mit Diana. Es ist aus. Vorbei. Es war einmal. Das wissen alle. Auch mein Chef. Aber trotzdem dreht mir der Idiot einen Strick daraus und lässt mich noch Monate später auflaufen. Was soll das? Verstehst du das?«
    »Er will ein Exempel statuieren.«
    »Ach, hör doch auf.«
    »Wenn ich Direktor der Uni wäre, würde ich es genauso machen.«
    Karl sprang auf. »Ich muss mir diese Scheiße nicht anhören. Ich hab keinen Job mehr, verdammt. Und das wird für uns ’ne harte Zeit.«
    »Wenn du weiter keine Sorgen hast …«
    »Ich finde, das reicht.«
    Karl beruhigte sich etwas und setzte sich wieder.
    »Verzeihst du mir wenigstens?«, fragte er und versuchte sie an sich zu ziehen und in den Arm zu nehmen. Aber sie entzog sich seiner Berührung.
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie und lächelte schwach.
    Drei Monate später starb Christines Vater an Darmkrebs.
    Die schrecklichen Wochen davor, als Christine täglich bei ihm im Krankenhaus war und sich um alles kümmerte, war Karl zur Stelle. Unauffällig erledigte er den Haushalt, unterstützte sie, wo er nur konnte, hörte zu, wenn sie reden, und hielt den Mund, wenn sie

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