Bewusstlos
schweigen wollte.
Karl war wie ein guter Geist. Christine bemerkte ihn und lernte wieder, ihn zu schätzen.
Christines Vater hatte ein Hotel in St. Peter-Ording, eine Ferienhaussiedlung in Cuxhaven und eine Vierhundert-Quadratmeter-Wohnung in Hamburg besessen und alles seiner Tochter vermacht.
Als alle bürokratischen Angelegenheiten erledigt waren, schwamm Christine im Geld.
»Was machen wir damit?«, fragte Karl irgendwann vorsichtig. »Du willst dir doch wohl nicht jeden Morgen entzückt deine Kontoauszüge ansehen, und das war’s dann? Und du kannst die Immobilien nicht verrotten lassen! Damit muss irgendwas passieren, Christine!«
»Sicher. Und ich weiß auch schon, was.«
»Verrat’s mir.«
»Ich möchte, dass wir einen Ehevertrag machen, mein Schatz. Wir haben Knete ohne Ende. Wir können in Saus und Braus leben. Aber es gehört mir! Und sobald du mich wieder mit irgendeiner kleinen Schlampe betrügst, ist für dich Ende. Dann fliegst du raus ohne einen Cent. Das ist meine Bedingung. Und das will ich festschreiben. Wenn du zustimmst, können wir mit dem Geld die Welt aus den Angeln heben. Aber was wir auch tun – es gehört mir.«
So, wie sie das sagte, hörte es sich fürchterlich an, aber er sagte: »Okay.«
Christine kündigte ihre Lehrerstelle in Tönning, und sie fuhren ein halbes Jahr durch Italien. Sahen sich Immobilen am Lago Maggiore, in Cinque Terre, in Umbrien, in Kalabrien, in Venedig – überall an.
Und schließlich kaufte Christine das Castelletto in der Toskana, das eine Teilruine war, umgeben von Weinbergen, die zum Grundstück gehörten. Zu diesem Zeitpunkt war Raffael siebzehn, hatte das Internat nach der mittleren Reife verlassen und war seit einem Jahr verschwunden. Es gab keinen Kontakt mehr, kein Lebenszeichen. Christine und Karl wussten nicht mehr, wo er war.
Sie mussten weg. Hielten es in Friesland nicht mehr aus, wollten ganz neu anfangen und vergessen, hatten beide jede Menge Idealismus, aber keine Ahnung von der italienischen Bauweise des fünfzehnten Jahrhunderts, vom Winzertum ganz zu schweigen.
Eine gute Voraussetzung, auszuwandern und die Welt aus den Angeln zu heben.
39
Drei Tage beobachtete er nun schon das Castelletto und hatte immer noch nicht das Gefühl, genug zu wissen. Wenn er kurz nach unten ging, um sich ein Brötchen, einen Teller Pasta oder eine neue Flasche Wein zu holen, wurde er hektisch, weil er fürchtete, in dieser kurzen Zeit etwas Wichtiges zu verpassen.
Er fragte sich, ob seine Eltern nicht wussten oder nie einen Gedanken daran verschwendeten, dass man das Castelletto vom gegenüberliegenden Örtchen wunderbar ausspionieren konnte. Vielleicht konnten sie es sich durchaus vorstellen, aber es störte sie nicht.
Die Abendsonne stand über dem Land, es war sieben Uhr, und die schöne Italienerin hatte Feierabend.
Sie verabschiedete sich von der Kleinen, küsste sie auf beide Wangen und übergab sie ihrer Mutter. Auch von Christine verabschiedete sie sich mit der üblichen kurzen Umarmung und dem angedeuteten Kuss auf beide Wangen, nahm ihre Tasche und verließ das Castelletto.
Wo ging sie denn jetzt hin? Raffael wollte alles über sie wissen, alles. Ob seine Mutter jetzt den Abendbrottisch deckte oder nicht, war momentan nicht so wichtig.
Er folgte seiner Göttin mit dem Fernglas.
Sie lief leichtfüßig und schnell, sprang über Steine und Baumwurzeln, rannte fast.
Raffael fragte sich, wo sie hinwollte. Dort im Weinberg hatte sie sicher nicht ihren Wagen geparkt.
Sie war jetzt schon eine Weile unterwegs. Ab und zu verlor er sie hinter Bäumen und Büschen aus dem Blick, aber bald tauchte sie auf dem Weg wieder auf.
Und dann entdeckte er das kleine Haus, dem er bisher keine Beachtung geschenkt hatte. Eine winzige Hütte, wahrscheinlich ein Unterschlupf für Arbeiter im Weinberg, die bei der Arbeit von schlechtem Wetter überrascht wurden. Von seinem Standort aus lag die Hütte weiter östlich, aber die Entfernung war fast gleich groß, sodass er sie genauso gut im Blick hatte wie das Castelletto.
Dahinter, ungefähr dreißig Meter entfernt, lag eine Scheune. Und weite Wiesen drumherum. Wahrscheinlich weideten hier ab und zu Schafe, Kühe hatte er in dieser Gegend noch nie gesehen.
Er hielt den Atem an.
Vor der Hütte stand ein Mann, und Raffael brauchte ein paar Sekunden, bis er ihn erkannte. Wahrscheinlich, weil er seinen Vater dort nicht erwartet hatte.
Nun behielt er ihn im Blick und wartete, aber es dauerte noch nicht einmal eine
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