Bewusstlos
Computer.
In der Schreibtischschublade Reste von Süßigkeiten, ein Notizblock, zwei vertrocknete Filzstifte, ein Kugelschreiber und drei Bleistifte, alle mit abgebrochenen Spitzen. Keine Briefumschläge, keine Karten, kein Stapel Schreibpapier. In einer weiteren Schublade eine Sammlung von Schlüsseln, ein Schweizer Messer und ein kleines Adressbuch.
In der dritten Schublade weitere ungeöffnete Briefe. Ohne Absender. Wieder lauter Bankbriefe. Sie versuchte den Poststempel zu entziffern. Der oberste Brief war vom März 2008, also über drei Jahre alt. Sie schüttelte nur fassungslos den Kopf und wandte sich der Kommode in der Ecke neben dem Erker zu.
Darin nur ein Schuhkarton mit Muscheln, ein paar Bernsteinsplittern, Tesafilm, einem Skatspiel, einem Stadtplan, Kerzenstummeln, Schere, Lupe, Streichhölzern, Taschenspiegel, Schnur und einer Zeitschaltuhr.
Außerdem ein kleines hölzernes Kästchen mit dem Foto eines kleinen Mädchens mit kurzen Haaren.
Ansonsten war die Kommode leer. Mehr besaß Raffael nicht.
Lilo hatte sich hingehockt und erhob sich nun mit steifen und schmerzenden Knien, stakste zum Bett und hob mit ihrer ganzen Kraft die Matratze hoch. Auch dort war nichts. Keine Geldvorräte, keine Pornos, keine Liebesbriefe. Nur jede Menge Wollmäuse unter dem Lattenrost.
Die schwere Matratze rutschte ihr aus den Händen und fiel zurück in ihre ursprüngliche Lage. Lilo schnaufte vor Anstrengung.
Ihr Blick fiel auf den Ofen. Sie ging hin und öffnete die Ofenklappe.
Raffael trat in die Pedale wie ein Verrückter, so wütend war er über diesen übertriebenen Aufstand wegen der Bohrmaschinen. Ein ruhiges, unaufgeregtes Wort zu den Kollegen hätte gereicht: »Jungs, wer noch eine Bohrmaschine zu Hause hat – bringt sie bitte unbedingt mit, wir brauchen sie morgen.« Das hätte gereicht. Heute gab es noch genug andere Sachen zu tun. Aber nein, Frank musste sich aufspulen und ihn sogar nach Hause hetzen.
Raffael war so sauer, dass er wild klingelnd durch die Gegend brauste, als ginge es um Leben und Tod, und zwei rote Ampeln überfuhr. Einer Frau mit Kinderwagen, die über die Straße ging, konnte er gerade noch mit einem wüsten Schlenker ausweichen.
Nun gut, die Bohrmaschine lag seit über einer Woche in der Speisekammer am Boden, weil er sich bisher einfach nicht aufraffen konnte, Lilos verfluchtes Regal anzubringen, aber bisher war im Theater auch noch niemandem aufgefallen, dass die Maschine fehlte. Da musste Frank weiß Gott nicht derartig überreagieren und die Atmosphäre vergiften.
Das Schlimmste daran war, dass er das Regal jetzt total hektisch aufhängen musste, wenn er die Bohrmaschine nicht in den nächsten Tagen gleich wieder entführen wollte. Denn was er Lilo versprochen hatte, wollte er halten. Das war ihm wichtig.
Er donnerte durch die Toreinfahrt, bremste wie ein Irrer und schmiss das Rad hinter die Mülltonnen. In den paar Minuten würde es ja wohl keiner klauen.
Fassungslos zog Lilo eine blutverschmierte Jeans, ein blutdurchtränktes T-Shirt, das vollkommen verkrustet war, und eine ebenso blutbesudelte Lederjacke aus dem Ofen. Die Jacke kannte sie gut, denn Raffael trug sie fast jeden Tag. Wo er auch hinging – die Lederjacke schien mit ihm verwachsen zu sein wie eine zweite Haut. Sie erinnerte sich daran, dass sie oft zu ihm gesagt hatte: »Junge, zieh dir noch einen Pullover drunter, in der Jacke allein ist dir doch viel zu kalt!« Aber er hatte ihren Rat immer nur in den Wind geschlagen, gegrinst und gesagt: »Mach dir keine Sorgen, Lilo, passt schon.« Dann war er abgezogen.
Und jetzt hatte er seine Sachen hier in den Ofen gestopft. Alle voller Blut.
In diesem Augenblick hörte sie, wie ein Fahrrad auf dem Hof hinter die Mülltonnen geschmissen wurde, es krachte und schepperte blechern, der Ton, den die Klingel abgab, klang kläglich.
Der Schreck fuhr ihr in die Glieder, sie war wie gelähmt. Augenblicklich wollte sie fliehen, konnte sich aber nicht rühren. Wie eine Maus, die erstarrt der Schlange in die Augen blickt. Du musst hier raus!, schrie sie in Gedanken, aber es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis sie sich wieder bewegen konnte. Mühsam zog sie sich vom Boden, wo sie gehockt hatte, hoch und stolperte so schnell wie möglich zum Fenster.
Wahrhaftig – es war Raffaels Rad, das da lag.
Zurück zum Ofen. In Panik stopfte sie die Sachen wieder hinein und versuchte sich dabei daran zu erinnern, ob die Jacke vorn oder hinten gelegen hatte – oder doch das T-Shirt?
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