Bewusstlos
als merkwürdig verhalten.
Aus diesem Gedanken und einem Impuls heraus ging sie zu seiner Tür, drückte die Klinke herunter und erwartete, dass sie wie immer abgeschlossen war. Den Schlüssel trug er stets in der Hosentasche mit sich herum.
Und dann fiel sie fast vornüber ins Zimmer, denn die Tür ging auf.
»Hallo? Raffael?«, fragte sie ängstlich, denn das offene Zimmer konnte eigentlich nur bedeuten, dass er doch da war, dass er zurückgekommen war und sie es nicht gehört hatte, und es war ihr furchtbar peinlich, einfach so hineinzuplatzen.
Aber niemand antwortete.
Sie sah sich um. Er war wirklich nicht da.
Wahrscheinlich hatte er wegen der Aufregung im Supermarkt später vergessen abzuschließen.
Ihr Herzschlag beruhigte sich.
Alle Möbel standen an ihrem gewohnten Platz, er hatte nichts umgestellt, nichts verändert. Im Zimmer tobte zwar nicht das Chaos, aber man konnte es auch nicht als besonders ordentlich bezeichnen. Das Bett war ungemacht, Raffael hatte die Bettdecke einfach nur über Laken und Kopfkissen geworfen, und daher wirkte das Bett wenigstens nicht zerwühlt. Neben dem Bett standen leere Bierdosen und von Kippen überquellende Aschenbecher, ebenso neben dem Sessel vor dem Fernseher. Es stank nach kaltem Rauch.
Warum bringt er die Dosen nicht einfach mit in die Küche, dachte sie, ich kann sie in der Speisekammer in der riesigen Plastiktasche sammeln, und immer, wenn wir einkaufen fahren, nehmen wir sie mit. Wo ist denn da das Problem?
Über dem Stuhl am Fenster hingen mehrere getragene T-Shirts und eine Jeans. Gelesene Zeitungen auf dem Fußboden neben dem Erkertisch, und die Schranktür war nur angelehnt. Sie widerstand dem Drang, hinzugehen und die Schranktür zu schließen, und wandte sich dem Schreibtisch zu, einem kleinen Tisch unter dem Fenster zum Hof. Der Tisch war ziemlich staubig, dort hatte schon lange niemand mehr gesessen und etwas geschrieben.
Ohne lange zu überlegen, ließ sie die Post für Raffael, die sie sonst auf die Kommode im Flur legte, mitten auf dem Schreibtisch. Dort würde er den Brief sicher sofort sehen, wenn er nach Hause kam.
Es war alles in Ordnung. So wie es im Zimmer aussah, hatte sie es bei einem jungen Mann eigentlich auch erwartet. Sie ging hinaus und schloss die Tür wieder sorgfältig hinter sich.
In ihrem Wohnzimmer schaltete sie den Fernseher an. Auf fast allen Kanälen liefen Doku-Soaps, Seifenopern oder seichte Nachmittags- oder Vorabendserien. Eigentlich interessierte sie sich für keine, aber sie wollte einfach ein paar Stimmen hören, die Stille ihres Zimmers erdrückte sie.
Sie ließ den Fernseher laufen und setzte sich in ihren geliebten Sessel am Fenster, von dem aus sie direkt in den Hof, aber auch schräg gegenüber zum Fernseher sehen konnte. Ihr Herz schlug schon wieder schneller, sie bemerkte ihre Nervosität und fragte sich, was eigentlich los war.
Und in diesem Moment begriff sie es: Sie hatte einen Fehler gemacht.
Wenn er seine Post auf dem Schreibtisch fand, wusste er, dass sie in seinem Zimmer gewesen war. Da vergaß er ein einziges Mal nach Monaten, seine Zimmertür abzuschließen, und schon spazierte sie hinein, um zu spionieren.
Er würde wahnsinnig wütend werden.
Aber das alles war ja nicht weiter schlimm. Sie hatte noch genügend Zeit, ihren Fehler zu korrigieren.
Lilo hievte sich aus dem tiefen Sessel hoch und ging hinaus bis zum Ende des Flurs, zu Raffaels Zimmer.
11
Frank Streger war fast einen Kopf kleiner als Raffael, aber wesentlich korpulenter, und er hatte die Kraft eines Bären. Er trug meterlange Balken allein auf seinen Schultern, hob Steinplatten, die niemand sonst auch nur millimeterweise bewegen konnte, und öffnete verrostete Scharniere, die die Bühnentechniker am liebsten gesprengt hätten. Er verlangte von seinen Untergebenen nur das, was er selbst leisten konnte – aber das war viel. Vor allem zu viel für junge Leute, die morgens um zehn gerade aus dem Bett und nicht aus dem Kraftraum kamen.
An diesem Nachmittag sah Raffael auf den ersten Blick, dass Frank schlechte Laune hatte. Er schaute niemanden an, machte keine Witzchen, sondern fluchte leise vor sich hin und blökte jeden an, der ihm im Weg stand.
Raffael kannte diese Stimmungen von Frank und wusste, dass man sich am besten unsichtbar machte und keinen Fehler beging, um den aufgestauten Frust und das heilige Donnerwetter nicht stellvertretend für alle abzubekommen.
Die Saulaune von Frank Streger hatte durchaus einen Grund: Die
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