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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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hereinkam.
    Sie zuckte zusammen und blickte ihn an, als sähe sie ein Gespenst.
    Dabei hatte er einen lockeren Gang, ein fröhliches Grinsen im Gesicht und einen kalten Zigarettenstummel im Mund.
    »Warst du noch mal weg?«
    »Ja, ich hab an der Ecke noch ein schnelles Bierchen getrunken. Wieso? Ist irgendwas?«
    »Nein, nein.«
    Er ging zum Kühlschrank und öffnete ihn, und in diesem Moment fiel es ihm ein.
    »Ach, du Schande«, meinte er und lächelte, »ich hab ja die ganzen Sachen noch nicht aus dem Wagen geholt! Gibst du mir mal den Schlüssel?«
    »Liegt auf der Kommode im Flur. Wie immer.«
    Raffael nickte. »Hoffentlich ist nichts dabei, was schnell in den Kühlschrank musste.«
    »Nein, ich glaube nicht, dass in der einen Stunde etwas schlecht geworden ist, außerdem steht der Wagen im Schatten.«
    »Okay. Ich geh jetzt und hol das Zeug.«
    Damit verließ er die Küche.
    Mein Junge!
    Sie fuhr sich über die Augen. Alles ist gut, Lilo, alles ist wie immer.
    Lilo hatte die Einkäufe in Kühlschrank und Speisekammer verstaut, und Raffael stand abwartend und unentschlossen in der Tür.
    »Alles klar?«, fragte sie.
    »Wieso?«
    »Nur so. Ich dachte, du hast was.«
    Er sah sie nicht an, ging zum Kühlschrank, holte sich ein Bier, öffnete es wie gewohnt mit seinem Feuerzeug, schnippte den Kronkorken ins Spülbecken – was sie nicht ausstehen konnte – und setzte sich ihr gegenüber. Trank das Bier in einem Zug aus und beugte sich vor. Sie bemerkte, dass seine Augen bereits nach hinten wegkippten.
    Er kam ihrem Gesicht bedenklich nahe, sie konnte nicht weiter zurückweichen.
    »Es ist alles in Ordnung, Lilo, okay? Lass mich mit deiner Scheiße in Ruhe, okay? Du musst mich nur einfach nicht nerven, okay? Und dann haben wir kein Problem miteinander, okay?«
    Hör auf mit diesen fürchterlichen Okays!, schrie sie innerlich. Was ist bloß in dich gefahren? So redest du doch sonst nicht!
    Mehr kam von ihm nicht, aber er stierte sie immer noch an. Nah und unbeweglich. Und das fand sie schlimmer, als wenn er weitergeredet hätte.
    Sie hielt seinen Blick aus und sagte keinen Ton.
    Schließlich stand er auf, verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung und fuhr mit seinem Fahrrad ins Theater.
    Sie fragte sich, was sie falsch gemacht hatte. Und fing an zu frösteln.
    Lilo legte sich eine halbe Stunde hin und kochte sich gegen fünf einen Tee. Drei Tassen und zu jeder jeweils einen schwedischen Butterkeks, ein Ritual, an dem sie seit Jahren festhielt und das sie »liebe Sünde« nannte, wenn sie mit ihrer Freundin in Amsterdam telefonierte oder wenn sie mit sich selbst sprach.
    Anschließend fühlte sie sich fit und gestärkt und verließ die Wohnung, um nach zwei Tagen mal wieder zu sehen, ob Post im Briefkasten war.
    Wie immer war es totenstill in dem großen, verwaisten Mietshaus. Nur ihre Schritte klapperten im Treppenhaus, auch die Inder im Parterre waren um diese Zeit zur Arbeit. Acht riesige Wohnungen im Vorderhaus, und kein Mensch war da, sie war ganz allein. Kein schöner Gedanke.
    Auch den Briefträger hatte sie schon wochenlang nicht mehr gesehen. Früher war der Briefträger noch bis an die Wohnungstür gekommen, man hatte ab und zu ein paar Worte gewechselt, und er hätte sich gewundert, wenn eine alte Dame tagelang nicht auf Klingeln oder Klopfen reagierte.
    Damals starb man genauso einsam, aber nicht so anonym.
    Doch sie brauchte keine Angst zu haben. Raffael würde für sie da sein, wenn es ans Sterben ging.
    Und sie waren seelenverwandt. Obwohl er so jung war, war er genauso allein wie sie. Er hatte keine Geschwister, keine Eltern und keine Freunde. Noch nicht einmal eine Freundin.
    Im Briefkasten steckten zwei Briefe. Einer für sie und einer für Raffael.
    Sie brauchte lange, um die fünf Treppen wieder nach oben zu steigen, und machte drei lange Pausen. Zurück in ihrem Wohnungsflur stand sie eine Weile still, um wieder zu Atem zu kommen, und hatte Raffaels Zimmertür im Blick.
    Der Junge war ihr ein Rätsel, sie hätte gern mehr über ihn gewusst.
    Seit seinem Einzug war sie nie mehr in seinem Zimmer gewesen. Ein Zimmer sagte viel über einen Menschen aus. »Zeige mir, wie du wohnst – und ich sage dir, wer du bist.« Diesen Spruch hatte sie immer für richtig gehalten.
    Aber Raffael machte aus seinem Zimmer ein Geheimnis, schloss ständig ab, und wenn sie an seine Tür klopfte, öffnete er nur einen winzigen Spaltbreit, damit sie auf keinen Fall in den Raum sehen konnte.
    Und heute hatte er sich mehr

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