Bewusstlos
wie ein Tier, das erst allmählich den Geruch der Beute wittert, und begann gierig zu trinken.
»Nicht so schnell, sonst wird dir schlecht. Schluss jetzt erst mal!« Er nahm ihr das Glas wieder weg und stellte es auf dem Nachttisch ab.
Dann öffnete er ihr die Fischbüchse.
»Magst du Hering in Tomatensoße?«
Sie reagierte nicht.
Er drückte ihr die Gabel in die Hand. »So. Guten Appetit. Iss langsam. Ich werd mich jetzt hier mal ein bisschen umsehen.«
Er riss die Schranktür auf und fing an, wie ein Wilder in ihren Sachen herumzuwühlen. Was ihn störte, ließ er einfach auf den Boden fallen.
»Alte Tanten wie du haben doch ihre Knete nicht nur an einer Stelle versteckt. Ihr seid doch wie die Eichhörnchen, die alles horten, verstecken und dann wieder vergessen.«
»Mehr hab ich nicht«, röchelte sie und konnte es kaum ertragen, dass er ihre privatesten Dinge durchkramte, angewidert und mit spitzen Fingern ihre Schlüpfer in die Höhe hielt, widerlich lachte und sie schließlich wieder irgendwohin stopfte.
Er richtete ein heilloses Chaos im Schrank und auf dem Fußboden an und wurde immer wütender, weil er nichts fand.
Lilo hielt den Atem an, als er begann, ihre Frisierkommode zu durchwühlen. Bitte nicht, flehte sie innerlich, bitte nicht!
Aber da hatte er ihren Schmuck, den sie von ihrer Mutter geerbt oder von Wilhelm geschenkt bekommen hatte, bereits gefunden.
Ihr schossen die Tränen in die Augen, als sie sah, wie er sich Ringe, Ketten, Armbänder und ihre Lieblingsbrosche in die Hosentasche stopfte.
»So«, sagte er schließlich. »Das reicht jetzt erst mal. Bei Gelegenheit werde ich gucken, ob du vielleicht in den andern Zimmern auch noch was versteckt hast.«
Sie rührte sich nicht und sagte nichts.
Er ließ sie mit dem Tablett auf ihrem Bauch allein und verschloss wieder die Tür.
Der Gestank in Lilos Zimmer war einfach unerträglich. Es war widerwärtig, wie Menschen zu stinken begannen, wenn sie alt wurden.
Er schüttelte sich. Morgen würde er in dem Zimmer mal lüften.
Aber dann erinnerte er sich daran, dass das ja gar nicht möglich war, weil er das Fenster zugenagelt hatte.
Na dann eben nicht. Wahrscheinlich roch Lilo ihren eigenen Gestank überhaupt nicht, und dann war es eigentlich auch egal.
Er verstaute Lilos Geld und ihren Schmuck in seiner Kassette im Zimmer, stopfte sich hundert Euro davon in die Hosentasche und verließ die Wohnung.
Er brauchte jetzt dringend einen Absacker. Ein paar gepflegte Bierchen.
Lilo schaffte es, die Fischkonserve langsam zu essen. Aus einem für sie normalen Bissen machte sie fünf. Weil sie wusste, dass ihr leerer Magen dann weniger rebellierte, und auch, um den Genuss zu verlängern. Aber als sie fertig war, war ihr gesamter Organismus gierig nach Nahrung, sodass ihr Hungergefühl nach dem Essen noch stärker und unangenehmer war als vorher.
Raffael hatte gesagt, er würde morgen wiederkommen. Sie konnte nur warten und hoffen, dass er sie nicht erneut vergaß.
Sie erwachte, weil sie die Wohnungstür schlagen hörte, und sah auf die Uhr. Halb sechs. Anscheinend war Raffael nach Hause gekommen. Er würde jetzt mindestens bis zwei oder drei Uhr am Nachmittag schlafen und ihr vorher nichts bringen.
Als ihr das klar wurde, spürte sie, wie alle Kraft aus ihr wich, langsam wie die Luft aus einem Gummiboot, bei dem man das Ventil öffnet. Ihr Überlebenswille war sinnlos und würde sie nicht retten. Sie würde sterben und hier in diesem Zimmer verhungern und verdursten. Weil ein Wahnsinniger, ein unzurechnungsfähiger Alkoholiker ihre Wohnung mit Beschlag belegt hatte. Weil er sie gefangen hielt und dabei war, sie zu ermorden.
Lilo Berthold verzweifelte. Und zum ersten Mal begann sie zu weinen.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie Angst davor gehabt, einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall oder Krebs zu bekommen – sie war davon verschont worden. Und außerdem hatte sie sich davor gefürchtet, am Schluss in einem Krankenhaus dahinzuvegetieren und niemanden, keinen Freund, Verwandten oder Bekannten zu haben, der ihre Hand hielt, wenn es ernst wurde. Niemanden, der ihr ein frisches Nachthemd vorbeibrachte.
Und nun war alles ganz anders gekommen. Viel schlimmer.
Sie spürte, dass sie dringend auf die Toilette musste. Die Vase stand am Fenster. Bis dorthin musste sie es schaffen. Auch auf wackligen Beinen. Auf keinen Fall durfte sie umfallen. Dann würde sie stundenlang auf dem Boden liegen.
Unvorstellbar, dass sie es vor einem Tag – oder war es
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