Bewusstlos
stand.
»Keine Panik«, raunte er, »ich bin’s. Dein Schutzengel. Ich muss nur mal was holen. Reg dich nicht auf und fang nicht an, mit mir zu diskutieren, es muss sein.«
Lilo war ungewöhnlich bleich, ihre Haare standen wüst vom Kopf ab, kein Wunder, sie hatte sich seit Tagen nicht mehr gewaschen und gekämmt. Ihre blassen Lippen waren spröde und gerissen und sahen aus wie eine zerfurchte, vertrocknete Gebirgslandschaft.
Raffael riss den Kleiderschrank auf, fand den Karton sofort und nahm ihn an sich.
»Wasser«, krächzte Lilo, »bitte, Raffael, gib mir ein bisschen Wasser!«
»Später«, antwortete er eilig, »ich hab jetzt keine Zeit.«
Mit dem Karton rannte er aus dem Zimmer, nahm das Geld heraus, stürzte aus der Wohnung, hastete die Treppe hinunter und erreichte den schwarzen Audi. Es war acht Minuten nach acht.
»Wird auch Zeit«, zischte Sergiu, als Raffael zum Auto kam, das immer noch mit laufendem Motor vor dem Haus wartete.
»Halt die Fresse«, schnauzte Raffael zurück, »das waren keine zehn Minuten, sondern höchstens zwei. Deine innere Uhr geht nach Donnerstag, Kollege.«
Und damit warf er ihm wütend das Geld in den Schoß. »Hier, zähl meinetwegen nach, und dann mach ’ne Fliege.«
Genüsslich und keineswegs eilig zählte Sergiu nach. Dann grinste er. »Stimmt ja auf Heller und Pfennig, mein Freund. Brav, sehr brav. Und wenn du mal wieder Lust auf ’ne kleine gepflegte Spielrunde hast – du bist ein immer gern gesehener Gast!«
»Verpiss dich!« Raffael wusste, dass er sich nicht mehr lange beherrschen konnte, aber er wollte sich nicht mit Vladim anlegen, der aussah wie ein übergewichtiger Catcher.
»Schönen Abend noch!«, flötete Sergiu mit seinem eingefrorenen Dauergrinsen. »Gib Gas, Vladim!«
Die beiden brausten los, und die Reifen quietschten, als sie um die nächste Kurve schleuderten.
Raffael spuckte in den Rinnstein und ging nach oben. Er wollte jetzt unbedingt wissen, wie viel Kohle er von Lilo abgestaubt oder vielleicht besser gesagt »geerbt« hatte.
So schwach Lilo auch war, sie hatte ganz genau mitbekom men, dass Raffael ihre Zimmertür nicht abgeschlossen hatte.
Mit Mühe stemmte sie sich hoch, schlüpfte in ihre Hausschuhe und schlurfte so schnell sie konnte zur Tür. Drückte auf die Klinke, und …
… die Tür ging auf.
Lilos Herz klopfte bis zum Hals. Dem Himmel sei Dank! Er hatte vergessen abzuschließen, er hatte es wahrhaftig vergessen.
Noch nie war ihr der Flur der Altbauwohnung so lang vorgekommen, und noch nie hatte sie das Gefühl gehabt, so langsam zu laufen. Als bewegte sie sich in Zeitlupe auf die Wohnungstür zu, wie ein Schwimmer, der – von einem Hai verfolgt – krault und krault, aber das rettende Ufer einfach nicht erreicht.
Und dann konnte sie es nicht fassen: Auch die Wohnungstür war offen!
Ohne zu überlegen lief Lilo so schnell sie konnte die Treppe hinunter, ein einziges Ziel im Auge: die Inder. Wenn ihr irgendjemand helfen konnte, bevor Raffael wiederkam, dann nur die indische Familie.
Das Treppenhaus schien endlos. Sie hatte das Gefühl, in einem Turm zu wohnen, es nahm überhaupt kein Ende, ihr Herz schlug bis zum Hals, und ihre Beine waren schwach und wacklig. Doch am Geländer konnte sie sich einigermaßen sicher hinunterhangeln.
Sie hatte das Gefühl, dass Ewigkeiten vergangen waren, als sie die Wohnung der Rhagavs erreichte.
Bitte, seid zu Hause, betete sie, bitte.
Nach dreimaligem Klingeln öffnete Aruna.
»Guten Tag, Frau Berthold«, sagte sie mit ihrem Akzent, der sehr abgehackt klang, »wie geht es Ihnen?«
»Helfen Sie mir!«, hauchte Lilo, und ihr Blick war irr. »Rufen Sie die Polizei, befreien Sie mich, ich werde gefangen gehalten, man will mich umbringen.«
Aruna verstand überhaupt nicht, was los war. Sie starrte nur fassungslos auf die alte Frau, die zitternd vor ihr stand. »Wer will Sie umbringen?«
»Helfen Sie mir! Holen Sie die Polizei!«, schluchzte Lilo.
Aruna wollte gerade ihre Tür weit öffnen, um Lilo hereinzulassen, als Raffael hinter Lilo auftauchte.
»Ach, da ist sie ja, ich hab sie schon überall gesucht. Oma, komm jetzt nach Hause, wie siehst du denn aus! Du kannst doch so nicht in der Gegend herumrennen!« Er sah Aruna kopfschüttelnd an, was so viel hieß wie: ›Sie sehen ja, wie schlimm es um meine Oma steht.‹
Beinah zärtlich und fürsorglich legte er den Arm um Lilo und sagte zu Aruna: »Meine Oma ist völlig verwirrt, sie läuft im Nachthemd davon und weiß nicht, was sie
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