Bewusstlos
zwei Tage her oder nur zwölf Stunden? – geschafft hatte, aus der Wohnung bis runter zu den Indern zu laufen. Jetzt hatte sie das Gefühl, das alles war schon ewig her, und sie hatte keine Kraft mehr, auch nur einen einzigen Schritt zu machen.
Die Angst saß ihr im Nacken, aber wenn sie ihr Bett nicht einnässen wollte, musste sie es versuchen.
Vorsichtig drehte sie sich auf die Seite und zog sich am Kopfende des Bettes hoch, sodass sie wieder zum Sitzen kam. Dann wartete sie ab, bis ihr Kreislauf sich stabilisiert hatte.
Langsam stand sie auf und hielt sich am Bett fest, darauf gefasst, sofort wieder zurückzufallen. Aber sie blieb stehen. Zentimeter für Zentimeter schob sie sich vorwärts, breitbeinig, um nicht den Halt zu verlieren. Sie stützte sich an der Wand ab, rutschte und hangelte sich so bis zur Zimmerecke und dann an der anderen Wand weiter bis zum Fenster. Als sie eine Wandlampe greifen wollte, um sich festzuhalten, griff sie daneben und hätte beinah den Halt verloren, aber dann fing sie sich, hielt inne, bis sich ihr rasendes Herz beruhigt hatte, und schaffte es bis zur Vase, auf die sie sich laut seufzend setzte.
Anschließend sank sie in den Sessel am Fenster. Es war entspannend, mal nicht im Bett sitzen oder liegen zu müssen.
Sie dachte an ihren Garten im Hof, und die Sehnsucht danach wurde übermächtig. Die Tomaten waren inzwischen sicher gewuchert und mussten beschnitten und hochgebunden werden, und der Salat musste geerntet werden, sonst schoss er hoch und war ungenießbar. Und wer goss die Pflanzen, solange sie hier eingesperrt war? Niemand.
Die Pflanzen würden eingehen. Vertrocknen. So wie sie.
Sie hatte nur einen einzigen Wunsch: Die Rosen noch einmal blühen zu sehen.
Lilo schloss die Augen, um sich ihren Rosenbusch an der Hauswand besser vorstellen zu können. Um wenigstens in ihrer Fantasie etwas Schönes zu sehen und ein paar Sekunden glücklich zu sein.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, war es im Zimmer stockdunkel.
Das war das Ende.
27
Einundzwanzig Stunden später ging das Licht wieder an.
Lilo konnte kaum begreifen, dass sie immer noch lebte. Sie lag im Sessel, und alle Glieder taten ihr weh. Ihr Kopf war nach hinten weggekippt, und ihr Nacken schmerzte derart, dass sie quälende Minuten brauchte, bis sie den Kopf überhaupt wieder bewegen und anheben konnte.
Lass mich sterben, dachte sie, ich will nicht mehr.
Zwei Stunden danach hörte sie den Schlüssel im Schloss, und Raffael kam herein.
»Hallo, Lilo«, sagte er. »Tut mir leid, hat ein bisschen gedauert, aber ich musste erst einkaufen.«
Lilo sah undeutlich und verschwommen, dass er ein Tablett in der Hand hielt, aber sie konnte nicht erkennen, was darauf war.
»Was machst du denn da im Sessel?«
Sie antwortete nicht, aber Raffael hatte auch keine Antwort erwartet.
»Pass auf. Du musst mir hier mal was unterschreiben.«
So weit konnte Lilo noch denken, um zu begreifen, dass er jetzt versuchte, sie auch finanziell völlig zu vernichten.
Er hielt ihr ein bedrucktes Papier vor die Nase. »Du brauchst nur kurz zu unterschreiben, und dann gibt’s Futter. Und was zu trinken. Und wenn du willst, hol ich dir sogar ein Bier.«
»Gib mir meine Brille.«
Raffael reichte sie ihr, und sie setzte sie auf.
Vollmacht stand auf dem Zettel, den sie überflog. Manchmal tat sie sich mit offiziellen Briefen oder Dokumenten schwer, bis sie begriff, worum es ging, aber dies hier war deutlich. Raffael wollte eine Vollmacht über ihr Bankkonto.
Nein!, schrie sie in Gedanken, nein, nein, nein! Und wenn sie deswegen verreckte, sie wollte ihren Mörder nicht auch noch mit ihrer Rente bezahlen. Schlimm genug, dass er ihre Ersparnisse gestohlen hatte
Sie zerriss den Zettel.
»Niemals«, sagte sie leise.
»Okay«, meinte er und hatte Lust, sie auf der Stelle zu erwürgen, »es ist deine Entscheidung.«
Er wollte gerade das Tablett, auf dem sich zwei Brote mit Wurst und Käse, zwei Spiegeleier und eine Anderthalbliterflasche Wasser befanden, wieder mit hinausnehmen, als es an der Tür klingelte.
»Wer ist das?« Raffaels Augenlid begann nervös zu zucken.
Lilo zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht Besuch für dich. Oder die Post?«
Raffael stürzte aus dem Zimmer, war aber noch geistesgegenwärtig genug, hinter sich abzuschließen.
Das Tablett hatte er vergessen, und Lilo begann hastig zu essen.
Raffael blickte aus dem Fenster. Der Briefträger verließ gerade das Haus.
Ach so. Nichts Wichtiges. Der
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