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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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würgte. Ihr Magen war leer und vertrocknet. Sie hatte keine Ahnung, wie lange Raffael nicht mehr zu ihr gekommen war. Stunden, vielleicht sogar Tage.
    Aber es interessierte sie auch nicht mehr. Sie musste sterben, das war ihr völlig klar, und dann war es gut, wenn es bald geschah.
    Raffael stellte das Wasserglas zur Seite.
    »Lilo, hörst du mir zu?«, flüsterte er.
    Sie antwortete nicht. Lag bewegungslos.
    »Sprich mit mir, bitte!«, bettelte er, und wenn sie noch die Kraft gehabt hätte, hätte sie gelacht. Was gab es zwischen ihnen noch zu bereden? Er war ihr gleichgültig geworden. Nein, das stimmte nicht, sie hasste ihn. Jede einzelne Zelle ihres Körpers wünschte ihm den Tod. Einen genauso erniedrigenden und erbärmlichen wie den ihren.
    »Bis zu meinem siebten Lebensjahr war ich keine Sekunde allein, Lilo. Und keine Sekunde unglücklich. Kannst du dir das vorstellen? Es war der Himmel auf Erden, und ich ging immer davon aus, dass es so bleibt. Bis in alle Ewigkeit. Bis zum Jüngsten Tag. Bis wir beide sterben. Mit neunzig. Hand in Hand und in derselben Stunde. Meine Zwillingsschwester und ich.«
    Er stockte und trank einen Schluck. Wahrscheinlich hatte er – wie üblich – eine Bierflasche in der Hand. Sie sah nicht zu ihm hin, hielt die Augen geschlossen. Es war ihr alles egal. Sie wollte auch seine Geschichte, seine alkoholgeschwängerten Gefühlsduseleien, nicht hören. Es ging sie alles nichts mehr an. Sie hatte mit dieser Welt abgeschlossen.
    »Aber sie ist tot, und ich bin schuld. Sie ist verdammt noch mal gestorben, weil ich keine Kraft hatte, weil ich ein Schlappschwanz war, weil ich nicht durchgehalten habe! Ich habe es noch nie jemandem erzählt. Niemandem! Du bist die Erste, die es erfährt, und daran siehst du, wie sehr ich dich schätze. Ja, ich mag dich wirklich, Lilo.«
    Sie reagierte nicht.
    Nach einer kurzen Pause sagte er: »Ich muss es loswerden, ich kann es nicht mehr aushalten, das mit mir rumzuschleppen. Hätte ich ein bisschen mehr Power gehabt, wäre sie vielleicht noch am Leben.«
    Er schluchzte auf. Lilo rührte sich nicht.
    »Wir wohnten an der Nordsee. In einem kleinen Ort. Es war toll da. Ich liebte das weite Land und das Meer. Svenja und ich haben stundenlang Muscheln gesammelt und Bernstein gesucht. Aber den hat immer nur Svenja gefunden. Sie hatte da irgendwie ’nen Blick für, ich nicht. Ich fand es öde, ewig nur auf den Sand zu starren, ich sah immer übers Meer und konnte es nicht fassen, wie sehr es in der Sonne glitzerte. Heute kann ich das Meer nicht mehr ertragen. Wenn ich Strand und Wellen sehe, könnte ich kotzen. Weil mich einfach alles an sie erinnert.
    Jeden Tag haben wir draußen herumgetobt. Bei jedem Wetter. Liefen Rollschuh auf den asphaltierten Wirtschaftswegen, da bekam man richtig Speed drauf. Und meist waren wir mit Fiete zusammen, mit dem spielten wir oft. Aber an dem Tag nicht, Lilo. Ausgerechnet an diesem Tag waren wir allein. Sonst wäre vielleicht alles anders gekommen. Fiete hätte Hilfe holen können. Ich denke an nichts anderes, nur daran, dass wir auf tausend verschiedene Arten den Tag hätten verbringen können, und nichts wäre passiert. Aber es musste ja unbedingt die tausendeinste Möglichkeit sein. Warum? Ich begreife es nicht. Ich glaube, das Leben ist richtig gemein. Und das merkst du ja auch, Lilo. Du hattest riesiges Glück, dass ich bei dir eingezogen bin – und jetzt kannst du es gar nicht mehr genießen, weil du so schwach geworden bist.«
    Sie röchelte, und Raffael stieß sie an, damit sie damit aufhörte.
    »An diesem Scheißtag spielten wir bei Bauer Harmsen in der Scheune. Es war eine tolle Scheune, unten trieb er manchmal die Schafe mit den kleinen Lämmern rein, oben, wo das Heu lag, spielten wir. Dort war so ’ne Art offener erster Stock, von dort konnte man die ganze Scheune überblicken. Das war unsere Welt und echt gemütlich. Zum Spielen fiel uns eigentlich immer was ein. Himmel, wir waren sieben und hatten nur Märchen und Gespenster im Kopf. Und Tiere, Lilo, Tiere waren für uns das Allerwichtigste überhaupt.
    An diesem Tag spielten wir Hund. Wir wünschten uns sehnlichst einen, besser noch zwei, für jeden von uns einen. Aber unsere Eltern waren dagegen. Obwohl wir doch auf dem Land lebten. Das kapierten wir einfach nicht. Und darum haben wir eben Hund gespielt. Wir haben uns abwechselnd ein Seil um den Hals gebunden, krochen als Hund herum, machten Männchen, bettelten, bellten, schnarchten, schmusten und

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