Bewusstlos
Ingenieursstudium und machte Karriere an der Uni, und ich begann mein Referendariat in den Fächern Deutsch und Französisch. Dann sind wir nach Friesland gezogen, weil Karl in Hamburg einen Lehrstuhl in Maschinenbau bekam, aber unter keinen Umständen in der Stadt wohnen wollte. Die Fahrerei hat ihm nichts ausgemacht. Beim Autofahren könne er am allerbesten nachdenken, hat er immer behauptet. Wir waren richtig glücklich. Und kurz darauf wurden dann die Zwillinge geboren. Aber das habe ich Ihnen ja schon erzählt.«
»Gut.« Dr. Corsini nickt und rückt seine Brille zurecht. »Dann lassen Sie uns doch jetzt über die Zeit reden, als Sie beide mit Raffael allein waren. Als er keine Schwester mehr hatte. Das dürfte für Sie alle eine schwierige Phase gewesen sein.«
»Das ist sehr gelinde ausgedrückt. Die Zeit nach Svenjas Tod war eine einzige Katastrophe.«
»Inwiefern?«
»Wir hatten eigentlich gedacht, Raffaels Schweigen und seine Starre würden sich nach einigen Tagen auflösen, und er würde wieder anfangen zu sprechen, aber das passierte nicht. Er war auch nach zwei Wochen noch genauso geschockt wie am ersten Tag.
Es hätte mir echt geholfen, wenn er langsam, ganz langsam wieder in einen normalen Alltag zurückgefunden hätte, aber wir haben alle drei in einer Ausnahmesituation gelebt, aus der wir nicht mehr rausfanden. Raffael spielte nicht, er saß immer nur stumm da, stierte in die Ferne oder an die Decke und bekam nichts von dem mit, was um ihn herum passierte. Wenn er mich angesehen hat, sah er mich gar nicht wirklich, sondern sah durch mich hindurch. Manchmal hatte ich den Eindruck, er wusste gar nicht mehr, wer ich war. Und ich hab Ihnen ja schon gesagt, dass er nicht mehr redete. Ich meine jetzt nicht, dass er schweigsam war und nichts erzählte, nein, er sagte kein einziges Wort. Nichts! Er rief nicht nach Mama oder Papa, sagte nicht ›Bitte‹ oder ›Danke‹ oder ›Ich hab Hunger‹. Auch nicht ›Ja‹ oder ›Nein‹. Glauben Sie mir, das ist nicht zu ertragen. Von Tag zu Tag sind wir weniger damit klargekommen.
Es war direkt ein Wunder, dass er überhaupt hin und wieder einen Bissen gegessen hat. Obwohl ich mich bemüht hab, nur noch das zu kochen, was er gerne aß: Spaghetti mit Tomatensoße, Kartoffelpuffer, Buletten, Eier in Senfsoße oder knuspriges Hühnchen mit Pommes frites. Aber er freute sich nie, hatte nicht den geringsten Appetit, ich glaube, er schmeckte gar nichts mehr.
Ich hab eines Morgens zu Karl gesagt, dass wir mit ihm zum Arzt müssen. Weil es so nicht mehr weiterging. Er musste zumindest so weit wiederhergestellt werden, dass er in die Schule gehen konnte. Ich hoffte, dass ihn das ablenken würde. Denn wenn er nur zu Hause rumsaß und den ganzen Tag an die Decke starrte, wurde alles nur noch schlimmer.
Aber Karl fand meinen Vorschlag albern. Wollte davon nichts hören. Jedenfalls noch nicht zu diesem Zeitpunkt.
›Glaubst du im Ernst, dass es mit Raffael besser wird, wenn irgendeine Psychojule ihn hundertmal löchert und fragt: Erzähl doch mal, wie war denn deine Schwester so? Was habt ihr denn zusammen am liebsten gespielt? Mal doch mal ein Bild von deiner Schwester … und so weiter?‹ Er machte mich richtig an. Jedenfalls hab ich mich angemacht gefühlt.
Karl war der Meinung, dass Raffael das zu diesem Zeitpunkt noch nicht verkraften konnte, denn dann würde die Erinnerung an dieses fürchterliche Erlebnis nie aufhören, sondern jeden Tag wieder neu hochgeholt und aufgekocht. Er hielt das für eine Quälerei und wollte, dass Raffael in Ruhe gelassen wird. Auch wenn es noch ein halbes Jahr dauerte. Er glaubte, dass Raffael nur bei uns im Haus sicher war, weil ihm da niemand Salz in die Wunde schüttet. Für ihn war ein Arzt nur der Auslöser für Psychostress.
Tja, ich wusste einfach nicht, ob Karl Recht oder Unrecht hatte. Und in solchen Fällen hab ich lieber meinen Mund gehalten und ihm seinen Willen gelassen. Ich wollte nicht verantwortlich sein, wollte nicht Schuld haben.
Raffaels Klassenlehrerin hat uns ein paar Mal besucht. Aber auch mit ihr hat er nicht geredet. War ja eigentlich klar. Alles andere hätte uns gewundert.
Frau Janson, seine Lehrerin, meinte, Raffael sollte wieder in die Schule kommen. ›Er braucht jetzt den Kontakt mit anderen Kindern‹, sagte sie. ›Auch wenn er nicht redet.‹ Sie fand das Reden nicht so furchtbar wichtig, sie fand es wichtiger, dass er vielleicht mitturnt oder im Musikunterricht mitmacht.
Als Frau Janson mich
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