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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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sportliche Frau in Sandalen, weißer Jeans und leichter, seidiger Bluse und nahm gerade ihre Sonnenbrille ab, um etwas in ihrer Handtasche zu suchen. Sie hatte leicht gewelltes dunkelblondes Haar mit dem hohen Haaransatz, den er so gut kannte. Früher waren ihre Haare etwas dunkler gewesen.
    Sie sah gar nicht viel älter aus.
    Er konnte nicht aufhören, sie anzustarren.
    Sie war es. Ganz eindeutig. Saß da und trank einen Cappuccino, vielleicht dreißig Meter entfernt.
    Er überlegte, ob er hingehen, sich einfach zu ihr setzen und »Hi Mama« sagen sollte, als sie aufsah.
    Ihre Blicke begegneten sich, einen Augenblick nur, aber da war kein Innehalten, kein Erschrecken, keine Überraschung oder ungläubiges Erstaunen.
    Da war gar nichts. Sie hatte ihn nicht erkannt.
    Zehn Jahre hatten sie sich jetzt nicht gesehen. Zehn verdammt lange Jahre. Und auch vorher schon hatten seine Eltern ihn nur selten im Internat besucht, es frustrierte sie, weil er nicht mit ihnen redete.
    Als sie das letzte Mal bei ihm gewesen waren, war er sechzehn gewesen. Hatte er sich so verändert, dass ihn die eigene Mutter nicht mehr erkannte?
    Vielleicht lag es daran, dass sie ihn natürlich nicht hier auf der Piazza von Montesassi erwartete.
    Sie stand auf, legte einen Euro für den Espresso auf den Tisch, warf sich die Umhängetasche über die Schulter und ging davon.
    An ihrem Gang und der Art, wie sie sich die Haare aus der Stirn strich, hätte er sie unter Tausenden erkannt.
    Er folgte ihr langsam, wollte unter allen Umständen vermeiden, dass sie spürte, dass jemand hinter ihr herging.
    Die ganze Zeit überlegte er, welche Möglichkeiten es gab: Er konnte zu ihr rennen, sie von hinten packen, festhalten und dann in ihr Gesicht gucken, das von panischer Angst gezeichnet war. Und würde es genießen, wenn sie langsam, ganz langsam begriff, wer er war, und dass ihre Angst unbegründet gewesen war. Ihre Erleichterung zu beobachten und dann ihre Überraschung, war sicher ein wundervoller Moment.
    Oder er könnte ihr sanft von hinten auf die Schulter tippen und »Hallo, Mama« flüstern. Und wenn sie dann sprachlos wäre, würde er beiläufig sagen: »Ich sehe, du machst einen Spaziergang. Ich auch. Das trifft sich gut. Lass uns doch zusammen gehen.«
    Ihre Fassungslosigkeit wäre sicher ein Genuss.
    Oder aber er würde schweigend einfach nur neben ihr hergehen, bis sie immer nervöser wurde. Ihn immer wieder abschätzend von der Seite ansah und mit der merkwürdigen Situation überhaupt nicht umgehen konnte.
    Bis sie ihn dann irgendwann erkannte. An einer Geste, an seinen Augen, an irgendetwas.
    Sie würde denken, sie sei in einem anderen Film, und würde die Welt nicht mehr verstehen. Der seit zehn Jahren verlorene Sohn, von dem sie nicht gewusst hatte, ob er tot oder lebendig war, ging plötzlich neben ihr her. An einem herrlichen Sommertag in der Toskana.
    Er hatte diese drei Optionen.
    Aber er tat nichts von alldem. Folgte ihr unauffällig und konnte nicht glauben, dass die flott gehende Frau vor ihm seine Mutter war.
    Eine knappe halbe Stunde später sah er das Castelletto vor sich liegen. Die Chance, seine Mutter allein zu erwischen und das Wiedersehen mit ihr allein auszukosten, war fast vertan.
    Das konnte nicht wahr sein. Diese Burg gehörte seinen Eltern?
    Seine Mutter ging zügig eine gewundene Auffahrt hinauf, die rechts und links von Zypressen eingefasst war.
    Noch ein paar Minuten stand er da und sah hoch zu dem erhabenen Castelletto, der Burg mit dem hohen Turm, dann drehte er sich langsam um und ging zurück nach Montesassi.

34
    Er hatte Glück. Der nächste Bus nach Siena fuhr bereits in einer Dreiviertelstunde.
    In der ihm bereits bekannten Bar trank er zwei Gläser Weißwein und grinste, als der Wirt ihn fragte, ob er das Castelletto gefunden hätte.
    Dann stieg er in den Bus und ließ die Landschaft an sich vorüberziehen, ohne irgendetwas zu sehen.
    Der Busbahnhof lag mitten in der Stadt, und die Fahrt endete hier.
    Die meisten Fahrgäste liefen in dieselbe Richtung, und Raffael folgte ihnen.
    Er kannte Siena nicht, war noch nie hier gewesen, aber an diesem Tag hatte er keinen Sinn für die mittelalterlichen Gassen, die verwinkelten Hauseingänge, die herrschaftlichen Gebäude und die gewaltige Piazza.
    Es interessierte ihn alles nicht, auch dem Dom schenkte er keinen Blick, vor seinem inneren Auge stand nur das Bild des Castellettos und das seiner Mutter, die ihm unnahbar vorkam, aber immer noch so aussah wie in seinen

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