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Beziehungswaise Roman

Beziehungswaise Roman

Titel: Beziehungswaise Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Birbaek
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die Zeitung aufschlagen und lesen, dass Teile von meiner Schwester an irgendwelchen Hauswänden kleben. Sie erklärt mir, dass ich ein alter Sack bin, der an Selbstüberschätzung leidet. Ich erkläre ihr, dass sie mir nichts vormachen kann und dass ich ihre notgeilen Blicke auf meinen Luxuskörper durchaus bemerke. Sie gibt wieder Würgegeräusche von sich, und als ich vor dem Kindergarten anhalte, haben wir fünf Minuten Schwachsinn erzählt und ein paarmal gelächelt. An Far hat sie in den letzten Minuten bestimmt nicht gedacht. Es funktioniert.
    Sune nickt zum Eingang rüber.
    »Komm mit rein.«
    »Heute nicht, ich habe noch was vor.«
    Sie mustert mich neugierig.
    »Was denn?«
    »Eine Männersache.«
    Sie legt ihr Gesicht in mitfühlende Falten und nickt traurig.
    »Onanierst du immer noch so viel?«
    Ich starre sie einen Augenblick an. Dann muss ich lachen. »Herrje, meine Schwester entwickelt Humor. Was kommt als Nächstes? Gehst du mit einem Kerl aus?«
    Sie grinst zufrieden. Wir drehen eine weitere Blödelrunde, dann küsst sie mich, öffnet die Tür, verharrt noch mal und grinst.
    »Letzte Chance, Sisse zu sehen ...«
    »Sag ihr, ich hätte ihren Namen im Schlaf gemurmelt.« Sie zieht die Luft zwischen den Zähnen ein.
    »Dünnes Eis! Wenn sie einmal in Fahrt kommt, ist sie wie ein Alligator auf einer Blutspur, verstehst du?«
    Ich lache wieder.
    »Verstehe. Dennoch, mach ihr eine Freude.«
    »Hab dich gewarnt«, sagt sie und stößt die Tür ganz auf. »Sune.«
    Sie verharrt mit einem Bein draußen und schaut fragend über die Schulter.
    »Ich liebe dich.«
    Sie mustert mich perplex. Dann lächelt sie ein schönes Lächeln.
    »Ich liebe dich auch.«
    Für einen weiteren Augenblick sind die Sorgen aus ihren Augenwinkeln verschwunden, und so einen Augenblick nimmt einem keiner wieder weg. Dann steigt sie aus und schließt die Tür so vorsichtig, als stünde Far neben ihr, winkt noch mal durchs Fenster und geht beschwingt überden Fahrradweg. An dem bunten Tor winkt sie noch mal, dann öffnet sie das Tor, und sogar im Wagen höre ich das Kreischen der Kinder, als sie sie entdecken. Sie ist zu Hause. An der nächsten Ampel geht es links wieder zur Wohnung. Ich fahre geradeaus über die Sjællandsbrücke, in Richtung Amager, an meinem Geburtsort vorbei bis raus an den Dragørstrand. Ich parke den Wagen auf einem Parkplatz, auf dem fünfhundert Fahrzeuge Platz haben, doch außer mir steht hier nur ein alter Opel Kadett, in dem zwei Köpfe aneinanderkleben. Das Wageninnere ist voller Rauch und Hiphop. Ich ziehe meine lange Hose aus, schlüpfe in eine Sporthose von Far und tausche meinen Mantel mit einer Windjacke. Dann laufe ich los. Die Luft ist kalt. Das Meer ist grau. Der Himmel fast schwarz. Der Sand nass und schwer. Alle paar Meter scheuche ich Möwen auf, die schimpfend in die Luft steigen. Neben Torjubel und spielenden Kindern das einzige Geschrei, das ich liebe.
    Die Landschaft ist zu fremd, um ganz abschalten zu können, doch nach einiger Zeit schaffe ich es, nur noch Acht zu geben, wenn mir Spaziergänger mit Hunden entgegenkommen. Auf sich Acht zu geben. Herrje, was war nur mit mir in den letzten Jahren? Ich habe mich gehen lassen. Ich bin faul geworden. Habe mich an schöne Dinge so gewöhnt, dass ich sie nicht mehr genossen habe, und mich mit den schlechten Dingen arrangiert, statt sie zu verändern. Und das Wichtigste vergessen: dankbar zu sein. Das Leben zu genießen. Wie kann man das bloß immer wieder vergessen? Beten deswegen so viele Leute täglich, weil sie sich jeden Tag bewusst machen wollen, dass das Leben ein Geschenk ist? Ist Beten Bewusstmachung? Ist Beten Dankbarkeit? Sollte ich anfangen zu beten? Und betet man nicht bereits, wenn man nur daran denkt zu beten? Hallooo! Gedankenlärmalarm!! Nein. Diesmal nicht. Die Gedanken sind vielleicht noch etwas wirr, aber auf dem richtigenWeg. Wenn ich täglich beten muss, um mich daran zu erinnern, dass das Leben ein Geschenk ist, werde ich das tun, denn man gewöhnt sich an alles. Sogar an das Gute. Irgendwann zwickt es leicht in der Wade, also drehe ich um und jogge die Strecke ruhig zurück. Ja, man gewöhnt sich an alles. Ich habe Familie und Freunde und bin gesund. Das ist privilegiert. Wieso verdrängt man ein solches Wissen? Ich hätte wirklich nichts dagegen, wenn mein Bewusstsein den Auftritt von letzten Montag verdrängen würde, stattdessen verdrängt es, dass ich eigentlich ein glückliches Leben habe, bloß dass ich nicht glücklich

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