Beziehungswaise Roman
bin, weil mein Bewusstsein diese Erkenntnis verdrängt. Warum tut es das? Weil es nicht in der Lage ist, zwischen gut und schlecht zu unterscheiden? Dem muss ich nachhelfen. Glück muss den gleichen Stellenwert bekommen wie Angst. Ich muss Existenzglück in meinem Leben kultivieren. Genau. Ich beschließe jetzt, ab sofort glücklicher zu sein.
Die letzten dreihundert Meter sprinte ich, bis die kalte Luft meine Lungen frisst und der Wadenmuskel zumacht. Neben Fars Wagen bleibe ich atemlos stehen. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das Gefühl, wieder Luft zu bekommen.
Am frühen Abend kommen Ole und Helle mit ihrem Spezialisten wieder. Ein kleiner dicklicher Kauz, der kaum redet und unseren Blicken ausweicht. Vertrauen einflößen geht anders. Helle und Ole nicken uns beruhigend zu, gleichen es mehr als aus, gehen ins Schlafzimmer, schließen die Tür und bleiben eine Stunde. Wir hängen rastlos vor der Tür herum und machen uns keine Hoffnungen ... keine Hoffnungen ... keine Hoffnungen.
Als sie wieder herauskommen, geht der Arzt an uns vorbei zur Wohnungstür, ohne uns anzuschauen. Helle fragt, ob wir uns noch einen Augenblick setzen wollen. Wir gehenins Esszimmer und setzen uns. Sie lächelt ernst und spricht in leisem Ton. Über Hansen haben sie heute Nachmittag eine Kopie von Fars Krankenhausakte besorgt. Ohne CT kann man natürlich nichts ausschließen, doch wenn es an den Nebenwirkungen der Tabletten gelegen hat, dass ihm schwindelig wurde, brauchen wir uns darüber keine Sorgen mehr zu machen, die Tabletten sind vom Tisch. Far bekommt jetzt viermal täglich eine Spritze, bis der Perfusor kommt. Falls er zwischendurch Schmerzen haben sollte und weder Helle noch Ole erreichbar sein sollten, wird hier eine Notfallspritze liegen, die wir ihm setzen können, subkutan. Wir schauen sie an. Unter die Haut, nicht in die Vene, erklärt Ole. Helle sagt, dass das die guten Nachrichten waren, und bereitet uns sehr mitfühlend auf schlechte Nachrichten vor, doch dann erfahren wir nichts Neues: Laut Krankenhausunterlagen besteht bei Far Verdacht auf Magen- und Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Auf dem Ultraschall sind viele dunkle Schatten, die sich über Magen und Darm ausgebreitet haben. Diese operativ zu entfernen wäre ein Eingriff, der die Kräfte eines Zweiundachtzigjährigen übersteigen könnte. Sie sagt uns nichts anderes, als dass Far sich aussuchen kann, wie er sterben will: an Krebs oder an den Folgen der OP. Kein Wort von einer Wunderheilung. Das kann mich nicht umhauen, denn ich habe mir ja keine Hoffnungen gemacht ...
»Wie lange?«, fragt Ebba schließlich.
»Kann man nicht sagen«, sagt Helle.
Es ist das erste Mal, dass wir sie ausweichend erleben. Sie merkt es, weicht unseren Blicken aber nicht aus.
»Er sagt, dass er bald sterben wird«, versucht Sune es noch. »Wieso? Woher weiß er das? Kann es sein, dass er sich irrt?«
Helle schüttelt bedauernd den Kopf.
»Das kann keiner genau sagen, aber wenn er das sagt ...
Manche Patienten wissen ihren Zustand ganz gut einzuschätzen. Euer Vater spürt das. Und die vorliegenden Ergebnisse ...«
Sie zieht die Schultern ein bisschen hoch.
»Also, es ist der Krebs«, sagt Sune mehr zu sich.
Sie braucht einen Namen für den Gegner, um besser hassen zu können.
»An irgendwas stirbt man eben, wenn man alt ist«, sagt Ole.
Wir schauen ihn alle an.
»Heißt ja nicht, dass er bald stirbt«, murmelt er.
»Aber es wird vielleicht nicht mehr so lange dauern«, sagt Helle leise. »Es gibt Patienten, die kämpfen bis zum letzten Atemzug. Ich glaube, euer Vater hat in den letzten Jahren schon gekämpft.«
Sune zwinkert ein paarmal. Ich nehme ihre Hand.
»Der Arzt im Krankenhaus meinte, er sollte besser operiert werden.«
Helle lächelt sie bedauernd an.
»Ja, irgendwas müssen die sagen ... Ich weiß, es ist schwer, aber hört eurem Vater zu. Er weiß es am besten.«
»Ja«, sagt Ole.
Als sie weg sind, sitzen wir da. Ich will die beiden aufmuntern, aber mir fällt nichts ein, kein Witz. Ebba geht ins Schlafzimmer, doch sie kommt bald wieder raus und sagt, dass er schläft. Sune geht nachschauen. Als sie rauskommt, gehe ich nachschauen. Er schläft immer noch, und alles was ich denken kann, ist: Jetzt sieht er krank aus.
Als ich aus dem Schlafzimmer herauskomme, ist die Küchentür geschlossen. Ich bleibe verblüfft stehen. Die Küche hat eine Tür?
»Ebba will allein sein«, flüstert Sune.
Sie hat ihren schweren Mantel an und hält mir
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