Beziehungswaise Roman
Nikotin und Mottenkugeln riecht. Gott, habe ich sie vermisst.
Nach einem weiteren »Muntermacher« geht sie ins Schlafzimmer, und wir brauchen uns nicht anzustrengen, um alles mitzuhören. Ihre monotone Stimme durchdringt Wände und Zahnfüllungen immer noch so zuverlässig wie früher, als man auf jedem Familienfest all ihre Geheimnisse erfuhr, ob man wollte oder nicht. Sie kommentiert kurz die Veränderungen an Far und erzählt dann nur noch von sich, von ihrer großen Weltreise nach Kopenhagen. Sightseeingtour Großstadt, erster Stopp Krankenbett, zweiter Stopp Sohn besuchen.
Als sie wieder herauskommt, geht Sune schnell zu Far rein, damit er weiß, dass nicht alle außerhalb des Schlafzimmers mutiert sind. Ebba gießt Tante Gitte ein Käffchen ein, ich fülle ihr Medizinglas. Dann hören wir uns ihr Leben an. Ihre Angst vor Ausländern. Ihre Angst, krank zu werden. Ihre Angst, dass es keinen Himmel gibt. Ihre Angst vor steigenden Mieten, ihre Angst, dass ihr Sohn sie nicht mehr besucht. Kein Wort über Far. Ebba schaltet auf Durchzug, aber ich stelle Fragen. Sie ist Teil meiner Vergangenheit. Wäre ich in Danmark geblieben, wäre sie ein Teil meiner Gegenwart und meiner Zukunft. Wäre ich hier, hätte ich eine Großfamilie, und vielleicht würde ich sie dann oft genug sehen, um sie uninteressant zu finden.
Sune kommt wieder, wir essen. Far bleibt im Bett. Ich bin nicht sicher, ob es an seinem Gesundheitszustand liegt, denn sogar während sie mit ihrem Gebiss Furcht erregend auf das Essen einhackt, verbreitet Tante Gitte weiter Angst. Die Sozialsysteme, die Umwelt, die Rente ... Gegen sie war Nostradamus ein Romantiker. Ein Stichwort reicht, und schon kommen Schreckensszenarien auf den Tisch, dass man mit den Ohren schlackert. Sie bringt mich richtig gut drauf.
Nach dem Essen muss sie dann wirklich los. Als sie aufsteht, schwankt sie leicht. Sie sagt uns, dass alles gut wird, und schlüpft in den falschen Mantelärmel. Interessante Strategie. Erst alles niedermachen, um dann als Optimist aufzutreten. Ich halte den Mantel, Sune die Tante und Ebba mit Mühe die Fassung. Dann geht sie. Die Wohnungstür fällt ins Schloss. Wir werfen uns einen Blick zu. Sie hat vergessen, sich von Far zu verabschieden. Tante Gitte. So ist sie. So war sie. So bleibt sie.
Wir räumen den Tisch ab, und Ebba erzählt die Geschichte, wie Tante Gitte auf einem Familienfest ins Klo kotzte und dabei ihr Gebiss verlor, also gingen Far und Onkel Torben in den Garten und gruben die Kanalisation auf, bis sie es fanden. Sie spülte es ab, setzte es ein, die Party ging weiter. Mahlzeit. Auch eines der Dinge, die ich vermisse: über jemanden liebevoll herzuziehen, mit dem man sein Leben lang zusammenbleibt. Familie.
Sune und ich übernehmen den Abwasch, Ebba geht ins Schlafzimmer, um nach Far zu sehen. Ich will Sune gerade ein nasses Geschirrtuch auf den Hintern schlagen, als das Geräusch kommt. Wir erstarren und schauen uns an. In Sunes Augen steht der pure Schrecken. Ich lege eine Hand über meinen offenen Mund und spüre, wie die Härchen in meinem Nacken sich aufrichten. Sune lässt eine Tasse fallen. Das Geräusch löst die Starre. Wir laufen los. Ebba stehtneben dem Bett und presst sich beide Hände auf den Mund. Fars linke Gesichtshälfte sieht aus, als hätte man sie mit Gewalt zum Hals gezerrt. Sein Mundwinkel hängt nach unten, ein Augenlid ist halb geschlossen, die Augen blicken starr.
Die nächste Stunde zählt zu den seltsamsten, die ich erlebt habe. Jede Kleinigkeit dauert ewig und kostet Kraft, doch als die Notärztin Far untersucht, ist es, als ob sie sich aus dem Nichts materialisiert. Far liegt auf der Seite. Ebba hält seine Hand. Sune steht so dicht am Bett, dass sie die Notärztin bei der Untersuchung behindert. Ich stehe neben den desinteressierten Sanis und benutze die Wand, um aufrecht zu bleiben.
»Hat er komisch gesprochen oder über Taubheit geklagt?«, fragt die Notärztin, ohne den Kopf zu heben.
»Seine Hand war taub«, sagt Ebba sofort.
»Heute früh hat er Silben verdreht oder weggelassen.« »Er hatte einen Schlaganfall. Er muss ins Krankenhaus.« »Nein«, sagt Ebba.
Die Notärztin schaut sie an.
»Sofort«, sagt sie.
»Er bleibt bei uns«, sagt Ebba.
Die Notärztin nickt verständnisvoll und richtet sich an uns Kinder.
»Euer Vater hatte vermutlich in den letzten Tagen eine transitorische ischämische Attacke. Das Gehirn wird nicht mehr vollständig durchblutet. Solche Anfälle sind oft Vorboten
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