Beziehungswaise Roman
leben. »China ... Wie soll das funktionieren? Wir sind schon an Wolfsburg gescheitert.«
Sie drückt meine Hand fest und wirft einen Blick in die Runde. Nicht mal in der ersten Klasse kann man ein solches Gespräch führen, ohne dass alle mithören. Sie schaut mich wieder an, in ihrem Blick die unterschwellige Bitte, sie nicht in der Öffentlichkeit bloßzustellen. Ich schüttele den Kopf.
»Süße, ich kann nicht länger warten. Seit zwei Jahren lebe ich ein gottverdammtes Singleleben, und wer weiß, ob du überhaupt wiederkommst, wenn du einmal ins Big Business eintauchst.«
Den Mund leicht geöffnet, starrt sie mich an, und sie hat recht. Gottverdammtes Singleleben? Wie klingt denn das? Und wieso fragt sie mich nicht, wie das klingt? Weil in ihrer Welt der Kommunikationspsychologie eine Frage eine unbewusste Aufforderung ist, dem Fragesteller dieselbe Frage zu stellen? Sie will nicht gefragt werden? Ach scheiße, ich will diese Paranoia nicht mehr, ich bin müde vom Interpretieren, ich will einfach nur wissen, woran ich bin, Klarheit, Bescheid, frei atmen.
Sie schließt ihren Mund, zieht die Luft durch die Nase ein und bekommt sich wieder unter Kontrolle. Der Schaffner kommt. Er hat immer noch gute Laune und ist so sensibel wie ein Toter. Ja, ich bin zugestiegen, das hat er prima gemerkt. Nein, ich habe keine Bahncard dabei. Nein, ich weiß nicht, wie weit ich fahre. Wuppertal kommt gleich, Hagen gleich danach, bis nach Hannover mitfahren will ich nicht. Schließlich einigen wir uns auf Bielefeld. Das ist noch über eine Stunde. Müsste reichen, oder? Klar, fragt sich nur, wofür.
Meine Hände sind Fäuste und liegen auf meinen Schenkeln. Der Schaffner schaut Hilfe suchend zu Tess, doch sie schaut aus dem Fenster, peinlich berührt, wie immer, wenn ich in der Öffentlichkeit anecke. Er gibt mir mein Ticket und Wechselgeld und weiß einfach nicht, in waser hier hineingeraten ist – eben noch eine pünktliche Abfahrt und jetzt das. Schließlich zieht er mit einem bitteren Gesichtsausdruck zum nächsten Fahrgast. Die anderen mustern uns längst auffällig unauffällig, aber, leck mich, so ist die Liebe eben.
Tess bringt ihren Mund so nahe an meine Ohrmuschel, dass ich ihren Atem spüre.
»Lass uns nicht hier reden.«
Ich drehe mein Gesicht und schaue ihr aus nächster Nähe in die Augen.
»Wo dann? Und wann dann? Rufst du aus Peking an?«
Ihre Augen verdunkeln sich. Ihr Gesicht wird ausdruckslos. Sie atmet langsam und beherrscht. Für einen Moment, glaube ich, dass sie laut wird, doch wie immer erholt sie sich, nimmt meine Hand und steht auf.
Im Speisewagen blättert eine gelangweilte Servicefrau in einem Frauenmagazin. Als wir an ihr vorbeigehen, wirft sie uns einen Blick zu. Ich schüttele meinen Kopf, sie versenkt sich wieder in die Welt der modernen Frauen. Vielleicht stehen da ein paar Beziehungstipps drin. Muss gleich mal fragen.
Wir steuern den entferntesten Ecktisch an und setzen uns. Außer uns ist sonst nur ein Geschäftsmann anwesend. Er sitzt am ersten Tisch und redet auf Englisch mit einem Unsichtbaren. Tess nimmt die Speisekarte und mustert sie. Ich senke meinen Blick auf meine Hände, öffne sie endlich wieder und versuche einen klaren Kopf zu bekommen. Der Geschäftsmann hat ein Funkloch. Für einen Augenblick hört man nur das universelle Reisegeräusch, Zug auf Schienen. Irgendjemand hat mal gesagt, das soll beruhigend wirken, doch ich bin schon viel zu ruhig. Meine Wut reicht gerade mal für einen Schaffner. Was machen wir hier? Eine Aussprache? Ein Streit?
Mehr? Weniger? Ist weniger manchmal mehr? Oder mehr weniger? Oder ist weniger einfach weniger, wenn man aufhört zu spinnen?
Tess hebt ihren Blick von der Speisekarte und mustert mich.
»Siehst du es wirklich so, dass wir ...«
»Warte«, unterbreche ich sie und zeige ihr meine Handflächen.
Ihrem Blick nach zu urteilen, verletze ich sie schon wieder, aber sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen, und nickt. Ich atme tief durch und versuche, den Nebel zu verscheuchen, der sich um meine Gedanken gelegt hat.
Ein entgegenkommender Zug donnert vorbei. Wir erschrecken beide, und der Schrecken bleibt in ihrem Blick, auch als der Zug längst verschwunden ist. Ich möchte nicht wissen, wie meiner aussieht, denn mir ist klar, worauf das hier hinausläuft. In letzter Zeit habe ich oft darüber nachgedacht, was das Beste für uns wäre, doch letztlich bin ich immer wieder an den bizarren Gedanken gescheitert, mich von einer Frau
Weitere Kostenlose Bücher