Beziehungswaise Roman
Alltag möchtest, aber ich möchte dich um etwas bitten.«
Sie schließt die Augen. Ich merke, dass ich den Atem anhalte, und lasse wieder Luft in meine Lungen. Sie öffnet ihre Augen und mustert mich.
»Ich möchte, dass du uns etwas Zeit gibst.«
»Zeit wofür?«
»Um nachzudenken.«
Darüber denke ich kurz nach und merke, dass ich währenddessen den Kopf schüttele.
»Süße, wir haben zwei Jahre gebraucht, um dieses Gespräch zu führen. Ich muss wissen, wie es mit uns weitergeht, damit ich herausfinden kann, wie es mit mir weitergeht. Ich kann nicht länger warten, es ist ... mein Leben stagniert, ich warte nur noch. Aber ich will nicht mehr warten. Ich kann nicht mehr warten, es macht mich unglücklich.«
Ihre Augen flackern. Sie versucht ein Lächeln. Es wird eine nervöse Grimasse.
»Aber ... was heißt das ... glaubst du wirklich ...«
Sie senkt den Blick und schaut auf den Tisch.
»Es gibt ja noch eine Möglichkeit«, sage ich.
Sie hebt den Blick erneut, jetzt wieder mit Hoffnung. Ich atme durch.
»Komm nach Hause.«
Sie blinzelt und legt sich eine Hand seitlich an den Hals. »Wie stellst du dir das vor?«
»Kündige. Komm nach Hause. Such dir einen Job in der Nähe.«
Ihr Blick ist aussagekräftig. Sie hat vielleicht schon mal darüber nachgedacht, dass wir Probleme haben, aber diese Lösung nie wirklich in Betracht gezogen. Es geht ihr viel zugut, so wie es läuft. Ich sehe die Antwort in ihren Augen, bevor sie sie auf unsere Hände heftet. Ich löse meine Hände aus ihrer Umklammerung und klemme dann ihre zwischen meine.
»Süße, du findest einen anderen Job. Ich helfe dir dabei.« Ich weiß nicht, ob sie wirklich noch mal darüber nachdenkt oder ob sie bloß Anlauf nimmt, jedenfalls ziehen ein paar Dörfer an uns vorbei, bevor sie mich wieder anschaut. Ihr Blick drückt Bedauern aus.
»Ich kann nicht«, flüstert sie. »Noch nicht«, fügt sie hinzu und atmet tief durch. »Liebster, ich ...« Sie verstummt und zieht ratlos die Schultern hoch.
»Verstehe«, sage ich und verstehe es wirklich. Ich kotze gleich vor Verständnis. Aber so ist es eben, wenn der Partner etwas entdeckt und ausleben will, was man selbst vor langer Zeit entdeckt und ausgelebt hat. Lange her, dass mein Beruf mich erfüllte, aber nicht lange genug, dass ich schon vergessen hätte, welch überragendes Gefühl es war, mit absoluter Gewissheit einem Beruf und einer Berufung nachzugehen.
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagt sie.
Mein Herz fliegt in ein Luftloch und sackt dann so schnell wieder herunter, dass es mir den Atem verschlägt. Ein verräterischer Flächenbrand breitet sich aus.
»Was denn?«
»Du könntest mitkommen.« Sie lehnt sich vor, ein Leuchten in den Augen.»Überleg doch mal ... Eine neue Kultur, andere Sitten, und alles mitten im Wirtschaftsaufschwung. Und wir würden alles zusammen erleben, wir wären jeden Tag zusammen. Wie früher.«
Sie nickt mir zu, suggeriert mir, ihr zuzustimmen. Ich schiebe unsere Hände ein bisschen beiseite, um ihren Mund sehen zu können.
»Und was mache ich da?«
»Leben«, sagt sie und lässt es wie einen Idealzustand klingen.
»Und wovon? Mein Job hat mit Sprache zu tun. Chinesisch lerne ich in tausend Jahren nicht.«
Sie macht eine unwirsche Kopfbewegung.
»Ich verdiene genug für uns beide. Du könntest dir eine Auszeit gönnen, dich neu inspirieren lassen, Eindrücke sammeln, in Ruhe herausfinden, wie es mit dir weitergehen soll, wie du leben willst, wie wir leben können.«
Auszeit. Inspiration. China. Klar doch.
»Süße, wir ... Wir schlafen nicht mehr miteinander und sehen uns kaum noch, und jetzt willst du, dass wir zusammen auswandern? Wie soll das funktionieren? Ich warte im Hotel auf dich, und wenn du abends kaputt von der Arbeit kommst, lesen wir ein gutes Buch?«
Sie wirkt genau so verblüfft, wie ich mich fühle, als es zum ersten Mal ausgesprochen wird. Sie senkt den Kopf, um ihre Augen zu verbergen. Der Zug wird langsamer. Eine Durchsage verrät uns, dass wir bald halten. Die Servicefrau kassiert den Geschäftsreisenden ab und wirft einen Blick zu unserem Tisch. Ich ordere zwei Kaffee. Sie mustert kurz Tess’ gesenktes Gesicht, unsere verschränkten Hände, und zieht sich zurück. Wir rollen in den Bahnhof. Eine Stimme erklärt uns gut gelaunt, dass wir in Fahrtrichtung aussteigen können, und dankt für unser Vertrauen. In einem pünktlichen Zug zu fahren macht anscheinend alle glücklich. Fast alle.
Tess hält meine Hände
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