Beziehungswaise Roman
fest und ihren Kopf gesenkt. Vielleicht versteckt sie auch ihren Zustand vor den einsteigenden Fahrgästen, die sich nach einem Platz umschauen. Ich versuche mir bewusst zu machen, dass wir uns gerade trennen. Die beste Beziehung meines Lebens geht in diesem Augenblick zu Ende. Sieben Jahre. Doch alles, was mir in den Kopf kommt, ist zum Beispiel, dass ihr Gepäck unbeaufsichtigt auf ihrem Sitzplatz liegt.
Der Zug setzt sich wieder in Bewegung, die Servicefrau stellt uns zwei Kaffee hin. Am Nebentisch macht sich eine fünfköpfige Familie breit. Die Kinder plärren, die Eltern herrschen sie mit gedämpfter Stimme an. Ich kippe etwas Milch in Tess’ Tasse und rühre um. Dann mache ich meinen Kaffee zurecht und trinke einen furchtbaren Schluck. Tess hält immer noch ihren Kopf gesenkt und meine linke Hand fest. Draußen beschleunigt die Landschaft wieder auf zweihundert Stundenkilometer. Am Nebentisch hat die Mutter ihren größten Sohn gepackt und faucht leise auf ihn ein, während sie sich verstohlen umschaut, ob jemand mitkriegt, dass sie ihre Kinder immer noch nicht perfekt abgerichtet hat. Warum versuchen wir nur alle, perfekt zu wirken, obwohl wir wissen, dass es unmöglich ist? Es gibt nichts Perfektes, es gibt nur Liebe, oder? Aber sie allein reicht auch nicht. Oder? Früher dachte ich das – und hatte recht. Jetzt denke ich es nicht mehr – und habe recht. Ist alles Selbstprophezeiung? Wird alles gut, wenn ich mir einrede, dass alles gut wird? Nein. In dem Fall hätte es mit uns vor langer Zeit wieder gut werden müssen.
Tess hebt ihren Kopf, schaut mir in die Augen und lächelt mit zitternden Lippen.
»Also trennen wir uns? Einfach so?«
Ich ziehe die Schultern hoch, schiebe meinen Kaffee weg, gehe um den Tisch herum und rutsche neben ihr auf die Sitzbank. Ich lege ihr einen Arm um die Schulter und ziehe sie an mich, löse ihren Haarknoten und drücke ihren Lockenkopf an meinen Hals, rieche ihre Apfelhaare. Am Nebentisch wird die Familie aufmerksam. Die Erwachsenen schauen krampfhaft weg, die Kinder neugierig hin. Bis die Eltern es mitbekommen und sie wieder anfauchen. Ich halte mein Mädchen im Arm und spüre, wie sie zittert, als ihre Lippen sich an meinem Hals bewegen.
»Das ist doch verrückt«, flüstert sie.
Ich nicke und ziehe sie näher. Ich fahre mit meiner Hand durch ihre dichten Haare. Gott, ich liebe ihren Geruch. »Wir lieben uns doch«, flüstert sie.
»Ja«, flüstere ich. »Aber das ändert nichts an unserem Problem. Manchmal denke ich, das ist das Problem. Würden wir uns nicht lieben, könnten wir vielleicht leichter ... ach, scheiße, ich weiß auch nicht.«
Sie quittiert das mit einem gequälten Geräusch und bohrt mir ihre nasse Nase tiefer in den Hals. Draußen zieht die weiße Landschaft vorbei wie ein Leben am Ende des Tunnels. Der Nebentisch ignoriert uns schon bald. Neue Geschäftsreisende steigen ein. Der Schaffner kommt noch mal und macht einen Bogen um uns. Ich spüre Tess’ Wärme durch meine Kleidung, rieche sie und versuche ihr die Traurigkeit zu nehmen. Aber wohin mit meiner? Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber das ist jenseits jeder Vorstellung. Wir trennen uns in einem Speisewagen der Deutschen Bahn, umgeben von Geschäftsreisenden. Wenn ich meinen Humor wiedergefunden habe, muss ich mich dringend totlachen.
Irgendwann erklärt eine Durchsage uns, dass der nächste Halt Bielefeld ist. Ohne dass ich weiß, wie ich dahingekommen bin, stehen wir plötzlich an der offenen Tür und umarmen uns. Tess schluchzt an meiner Brust. Meine Augen brennen. Ich drücke ihr Kinn nach oben und küsse ihre nassen Lippen. Die letzten Fahrgäste steigen ein. Draußen pfeift der Schaffner. Ich küsse sie noch einmal. Atme ihren Geruch ein. Fühle ihren Körper. Dann schauen wir uns in die Augen. Küssen uns. Ich steige aus.
Die Tür schließt sich hinter mir. Ich schaue durchs Fenster. Sie legt ihre Hand auf die Scheibe, wie ein Gefängnisinsasse. Ich lege meine von draußen dagegen. Ein tolles Bild. Das finden die anderen Fahrgäste auch, die uns wohlwollend belächeln. Ja, ja, so ist die Liebe.
Der Zug setzt sich in Bewegung. Tess deutet auf ihr Herz, dann auf mich. Ich nicke. Ich weiß. Und wie. Sie lächelt ein klägliches Lächeln und kämpft wieder mit den Tränen. Mein Herz zieht sich zusammen. Der Zug wird schneller. Sie lässt die Hand kraftlos sinken, und wir schauen uns nur an, bis es nicht mehr geht. Noch bevor der Zug außer Sicht ist, sind meine Finger kalt.
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