Beziehungswaise Roman
Größe der Halle angeschaut und ein paar Berechnungen angestellt habe,klemme ich mir die Hände in die Achselhöhlen und gehe bibbernd die Straße runter, um mein Glück am Ring zu versuchen. Auf den Straßen ziehen unermüdlich singende Kostümgruppen von Laden zu Laden. Ich schlage mich bis zur Hauptstraße durch, wo etwa zwanzig Kostümierte an der Kreuzung um die vorbeifahrenden Taxen wetteifern. Gott, ich werde mitten im Karneval erfrieren. Oder schlimmer noch – nüchtern werden. Also, entweder zurück in den Puff oder zu Fuß in Richtung Heimat und darauf hoffen, dass ein freies Taxi vorbeikommt, bevor ich mich zum Sterben hinlege. Die Wahl fällt nicht schwer.
Eine halbe Stunde später habe ich erfrorene Ohren, erfrorene Zehen und eine abgestorbene Nase. Das Einzige, was ich nicht habe, ist ein gottverdammtes Taxi, obwohl circa fünfzig an mir vorbeigefahren sind. Scheinbar haben sie es heute nicht nötig, jemanden auf halber Strecke aufzupicken. Vielleicht ist aber auch die Glätte schuld, vielleicht bremsen sie ja direkt neben mir und rutschen noch bis in die Innenstadt. Warm eingepackte Jecken radeln an mir vorbei, abgefeiert Richtung Heimat oder neugierig in die Stadt. Ich gehe mit vorsichtigen Schritten Richtung Ehrenfeld, halte mir die Hände vor den Mund und atme hinein. Sogar mein Atem ist eisig. Es! Ist! Kalt!
Eine Ampel wird rot. Ich bleibe stehen, denn auf der Kreuzung schlittern Fahrzeuge vorbei. Auf der anderen Straßenseite beginnt mein Stadtteil. Nur noch hundert Erfrierungen, dann bin ich zu Hause. Man müsste an den Ampeln Bushäuschen aufstellen. Und warmen Tee ausschenken. Oder Mäntel verkaufen. Oder einfach weitergehen. Auch wenn jeder zweite Autofahrer heute unzurechnungsfähig ist. He, würde ich es überhaupt noch merken, wenn man mich überfährt?
Ein Radfahrer hält neben mir und stützt sich mit einerHand an die Ampel. Er trägt einen dicken Wintermantel und eine Wintermütze und Winterhandschuhe. Herrje, vielleicht leiht er mir sein Rad oder den Mantel, wenn ich ihm mein ganzes Geld gebe.
»Ist dir nicht kalt?«
Ich drehe meinen Kopf langsam und starre ihn an, entdecke in seinem Gesicht aber keine Anzeichen von Boshaftigkeit, im Gegenteil, mit der Fellmütze und den abgespreizten Ohrenklappen sieht er lustig aus.
»Wenn ich lache, platzt mein Gesicht«, sage ich, ohne die Lippen zu bewegen.
Er schaut mich mitfühlend an.
»Der Mantel in ’ner Kneipe geklaut und kein Taxi bekommen?«
»So ähnlich.«
»Das ist schlimm«, sagt er und nickt zur Bestätigung. »Es gibt nichts Fieseres, als nach Hause zu wollen und nicht wegzukommen. Ich war mal eine ganze Silvesternacht in einer Blockhütte eingeschneit, wo mein damaliger Freund rumvögelte wie eine Beutelratte auf Speed.«
»Gut zu wissen.«
Die Ampel wird grün. Ich setze mich in Bewegung. Er bleibt auf dem Rad neben mir.
»Falls du es noch weit hast, kannst du dich bei meinem Freund aufwärmen. Er macht eine Party. Es ist gleich da vorne.«
Er deutet auf ein Eckhaus. Ich schaue ihn an. Er nickt. »Häng dich an die Heizung, trink was, und wenn dir warm ist, zieh weiter. So machen’s doch alle, die im Karneval stranden. Wenn’s kalt wird, geh’n sie irgendwo rein, wo laut Musik ist und laut ...«, er nickt nachhaltig, »... laut wird es wohl.«
Das braucht er nicht extra zu betonen. Schon hier hört man das Bollern aus der Eckwohnung im ersten Stock.
Eine viel zu laute, viel zu verzerrte Version von Er gehört zu mir bringt die Scheiben zum Klirren, den Rest erledigen ekstatisch schreiende Tänzer, die vor den Fenstern herumzucken wie Epileptiker im Windkanal. Also, falls es Tänzer sind. Es könnten auch Protagonisten einer sehr heftigen Darkroom-Eröffnung sein.
»Also, was ist, hast du Lust?«
Lust. Haha. Ich werfe noch einen Blick nach oben. Die Scheiben sind beschlagen, und die Schreie wollen einfach nicht abreißen. Wie stehen die Chancen, jetzt nicht in eine herzliche Schwulenparty mit Bratenfett auf den Türklinken zu geraten?
»Gibt es da oben auch Frauen?«
Er schaut mich entgeistert an.
»Na klar gibt es da oben Frauen! Nie was von Kampflesben gehört?« Er schaut mich einen Moment entrüstet an. Dann kann er ein Grinsen nicht länger zurückhalten. »Hast du ’ne Schwulenphobie, oder was?«
»Noch nicht.«
Er grinst, steigt vom Rad und schiebt es auf einen Hauseingang zu, vor dem Dutzende Räder angeschlossen sind. Wenn ich nicht sofort ins Warme komme, schaue ich Amputationen entgegen,
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