Beziehungswaise Roman
Wasser für zwei Tassen?«, fragt eine Frauenstimme. Ich drehe den Kopf. Neben mir steht ein Kaninchen. Aus ihrem Mund ragen falsche Frontzähne heraus. Sieht süß aus. Ich pflücke eine weitere Tasse vom Haken.
»Milch? Zucker?«
Sie schüttelt den Kopf. Ich mustere ihr Kostüm. Vielleicht kann ich es klauen und damit den Heimweg überbrücken. Ach, was sage ich, in dem Ding könnte man wahrscheinlich unter einer Brücke schlafen, ohne zu erfrieren.
Sie mustert mich ebenfalls und nickt.
»Du bist Hetero.«
»’tschuldigung, ich wollte dich nicht abchecken, es ist nur – dein Kostüm sieht so warm aus, und ich friere, und da dachte ich, also, ganz schön warm, so ein Kostüm.« Herrje, ich klinge ja wie ein Irrer.
Sie mustert mich vorsichtig.
»Mit wem bist du denn hier?«
»Sebastian.«
Ihre Augen flackern kurz in die NLP-Nachdenkecke und kommen ergebnislos zurück.
»Tricksi«, ergänze ich.
»Ah«, nickt sie. »Hab ihn gar nicht kommen sehen.«
»Bist halt ’ne Frau, nicht?«, scherze ich und fange mir gleich einen Blick ein, von einem Händchen haltenden Pärchen neben uns. »Und mit wem bist du hier?«
»Ich besuche meinen Exmitbewohner. Er sitzt aber die ganze Zeit draußen auf der Treppe und heult.«
»Dann habe ich ihn, glaube ich, schon kennen gelernt. Was hat er denn?«
»Ist seine Masche. Irgendeiner findet sich immer, der ihn trösten will.«
»Vielleicht hat er ja wirklich was.«
»Wer nicht«, sagt sie.
Zum ersten Mal seit dem Frühstück spüre ich ein warmes Gefühl in mir. Es kommt aus der Magengegend, steigt nach oben und platzt in mein Gesicht. Das Kaninchen mustert mich, beginnt auch zu lächeln und nimmt die Häschenzähne aus dem Mund.
»Was ist?«
»Nichts. Es war nur ein seltsamer Tag.«
»Wieso?«
Ich greife nach dem Wasserkocher.
»Teewasser darf nicht richtig kochen«, erkläre ich ihr. »Es ist besser, es kurz vor dem Siedepunkt runterzunehmen, dann kann der Tee besser sein Aroma entfalten.« Ich fülle unsere Tassen mit heißem Wasser. »Darüber habe ich zwar noch nie eine wissenschaftliche Abhandlung gelesen, aber man kann es wirklich schmecken. Ebenso wichtig ist der Durchmesser des Tassenoberrands. Der reguliert die Wirkung zwischen Temperatur und Geschmack. Auch das müsste man eigentlich mal erforschen.«
»Schon gut«, lacht sie. »Wir müssen nicht darüber reden.« Ich setze den Wasserkocher ab, reiche ihr ihre Tasse, nehme meine und lehne mich wieder an die Heizung. Sie hockt sich neben mich.
»Ist dir nicht warm?«
»Mona.«
»Lasse. Ist dir nicht warm, Mona?«
Sie nickt.
»Doch, aber was soll ich machen, darunter hab ich nur einen Slip an.«
»Meinst du, das interessiert jemanden hier?«
Bevor sie darauf eingehen kann, geht drüben im Tanzraum ein Song zu Ende. Es entsteht eine kurze Pause. Dann beginnt das neue Stück. Es ist keine vier Sechzehntel alt, als plötzlich alle in der Küche die Arme jauchzend hochreißen. Ich verschütte heißen Tee auf meine Hose. Innerhalb einer weiteren Sekunde pressen sich alle Anwesenden gegen die Türöffnung. Für einen Moment staut es sich, dann löst sich der Pfropfen, und alle sind weg. Außer Mona und mir ist die Küche leer. Ich verziehe das Gesicht.
»Gloria Gaynor? Immer noch??«
Sie lacht.
»Die Jungs sind treue Seelen.«
Drüben stimmt ein Chor heulend I Will Survive an, und ich beginne langsam zu realisieren, dass der Tag vielleicht ein gutes Ende nehmen kann. Hier geht noch was. Das ist geschmackliches Zonenrandgebiet. Das ist Trash. Das ist potenzieller Rock ’n’ Roll. Wenn ich daran denke, dass ich jetzt noch in dieser Mutantenbar stehen würde, aber nein, ich hänge hier mit einem freundlichen Kaninchen rum, und so langsam spüre ich sogar meine Füße wieder.
Ich lächele das Kaninchen an und mache eine einladende Handbewegung zu der verwaisten Couch rüber. Sie verbeugt sich leicht, wobei ihre Ohren nach vorne klappen. Mann, sieht das süß aus. Ich folge ihr grinsend, und wir machen uns breit, klemmen die Beine auf eine Stuhlstrebe und schlürfen heißen Tee. Wir schweigen eine viertel Tasse und hören zu, wie sie drüben lauthals das Überleben feiern. Schließlich nicke ich ihr zu.
»Also, Mona, was macht die Liebe?«
Sie schaut mich überrascht an. Dann beißt sie die Zähne zusammen und senkt den Kopf. Ihre Lippen beginnen zu zittern. Sie wendet ihr Gesicht ab und bedeckt es mit der freien Hand. Ich sitze da und höre zu, wie sie gepresst atmet. Eine ganze Zeit atmet sie
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