Beziehungswaise Roman
sich ebenfalls qualifiziert hat.
»Ah, tut gut, ein unverzerrtes Gesicht zu sehen. Willst du was trinken?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Was stimmt mit dem nicht?«
Für einen Augenblick glaube ich, sie meint mich in der dritten Person. Ich wohne vielleicht zu lange gegenüber der Klinik. Dann folge ich ihrem Blick, der mich direkt zu Clemens führt.
»Der macht mir Avancen.«
Avancen.
»Fühl dich geschmeichelt. Mir hat er noch keine gemacht, und he, wir sind in Köln.«
Sie lacht nicht. Stattdessen wendet sie mir ihr Gesicht zu und mustert mich.
»Er sagte, du hättest einen eigenen Proberaum. Hast du da noch einen Platz frei? Ich würde gerne proben und kenne mich hier noch nicht aus.«
Sie erklärt mir, dass sie seit drei Wochen in der Stadt ist,noch eine Woche ein WG-Zimmer über die Mitwohnzentrale hat und erst mal abwarten will, wie sich alles entwickelt, bevor sie sich was Richtiges sucht. Ich gebe ihr meine Adresse. Sie fragt, ob Montag in Ordnung ist. Ich sage Ja. Sie nickt mir zu und geht. Ich schaue ihr nach. Seltsames Mädchen. Bin gespannt, wie Clemens sie vermarkten will.
Die Bedienung stellt mir den Drink hin und beweist dabei wieder, dass sie keinerlei Essensreste in den hinteren Zahnzwischenräumen hat. Wie sollten die da auch hinkommen? Ihren Rippen nach zu urteilen, hat sie seit Wochen nichts mehr zu futtern bekommen. Vielleicht sollte ich der Welthungerhilfe einen anonymen Tipp zukommen lassen.
Ich muss sie wohl zu lange angeschaut haben, denn plötzlich senkt sie das linke Augenlid, zieht den Mundwinkel hoch und die rechte Augenbraue höher. So verharrt sie und starrt mich an, wie Jack Nicholson nach dem Säureunfall in Batman. Nach einem Augenblick verstehe ich, dass es wohl sexy wirken soll. Gott, ich habe diese MTV-Luder-Sache noch nie verstanden. Was bringt Frauen dazu, zu glauben, dass es sie reizvoller macht, wenn sie jedem Fremden sofort Weisheitszähne, Brustwarzen und Bauchnabel zeigen und sich wie Nutten anziehen? Ein totaler Ablöscher. Hm. Vielleicht bin ich auch bloß altmodisch. Doch als sie weiterzieht, ertappe ich mich dabei, wie ich ihr auf den Hintern schaue. Ihre vom Fitness gestählten Pobacken relativieren meine moralische Empörung ein wenig. Wenn ich noch weiter hier herumhänge, kann ich für nichts garantieren. Ich sollte wirklich gehen. Genau. Prima. Erinnere mich jemand dran, mich nie wieder im Karneval zu trennen. Alle anderen sind gut drauf, und keiner ist zu Hause. Frauke treibt sich mit dem Arschloch herum, und Arne, ich habe nie herausgefunden, was er im Karneval treibt, aber er treibt es jedenfalls nicht zu Hause. Und hier stehe ich und fühle mich beschissen. Wie immer, wenn ich viel Zeit mit Tess verbracht habe, habe ichmich daran gewöhnt, nicht allein zu sein. Wie immer, wenn sie wieder fuhr, muss ich ein paar Tage in den Seilen hängen, bis ich mich umgestellt habe. Aber das hat ja jetzt ein Ende. Gott sei Dank. Nicht? Ja. Prima.
Vier Gläser später habe ich es geschafft. Ich bin betrunken. Mein leeres Bett habe ich mir immer noch nicht schönsaufen können, doch hierbleiben geht nicht mehr, denn in einer Ecke wird jetzt getanzt, und alle Tänzer wissen um Aussehen und Wirkung. Ein Stilsupergau.
Als ich den Ausgang ansteuere, winkt Clemens mich zu sich. Ich deute auf die Toiletten, wanke an ihm vorbei und verschwinde raus in die Freiheit. Sie besteht heute aus Nieselregen, Bodenfrost und Karnevalisten, die aus der gegenüberliegenden Festhalle strömen. Der eiskalte Regen erinnert mich daran, dass es eine dämliche Idee ist, ohne Wintermantel, Mütze und Handschuhe rauszugehen. Im selben Augenblick kommt ein Taxi vorsichtig um die Kurve gerollt und steuert die Festhalle an. Ich trete auf die Straße und winke mit einem Zwanziger. Gute Idee. Leider haben circa dreißig Jecken dieselbe.
Ein paar Besoffene brechen eine Rauferei vom Zaun. Während die sich rumschubsen, steigen andere ins Taxi und fahren weg. Die Deppen raufen sich weiter, Jecken stehen um sie herum und singen fröhlich. Eigentlich ein schöner Moment, wenn es nicht so arschkalt wäre. Tolle Idee, Karneval in den Winter zu legen. Ich meine, wer hätte was dagegen, wie in Rio bei dreißig Grad zu feiern? Da könnte man sich nachts einfach auf eine Wiese legen und schlafen, statt bei minus hundert ein verdammtes Taxi zu suchen. Von allen Seiten strömen weitere Karnevalisten herbei, in der Festhalle ist scheinbar gerade der lachende Hirnriss zu Ende gegangen. Nachdem ich mir die
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