Beziehungswaise Roman
sind. Es ist windstill und so ruhig, dass man die Stille hören kann. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten bin ich im Winter hier. Ich hatte ganz vergessen, wie schön es ist.
Wir kommen an dem Haus von Lena vorbei. Meine erste Flamme und Lieblingsärztin bei den Doktorspielen. Herrje, waren wir unschuldig. Irgendwann war sie einfach weg. Das passierte oft. Man verbrachte jahrelang jeden Sommer zusammen, doch plötzlich kam einer nicht mehr, und das Sommerhaus stand zum Verkauf. Wenn die Eltern nicht mitdachten, erfuhr man nie, wieso, und konnte keinen Abschied nehmen. Mit Lena holte ich das zwanzig Jahre später nach, als ich sie zufällig auf dem Roskilde-Festivaltraf. Sie hing mit Hells Angels herum und warf eine Bierbüchse nach mir, um ihre Wiedersehensfreude zu dokumentieren.
»Man sollte die Städte ... auf dem Land bauen ... da ist die Luft besser.«
Er schnauft schwer und wischt sich verstohlen Schweiß von der Stirn, aber der Spruch musste raus. Wenn Woody Allen mal eine Sprücheanthologie rausgeben will und nicht mehr alle zusammenkriegt, kann er jederzeit anrufen.
Ich bleibe vor dem ehemaligen Haus von den Johannsens stehen.
»Bin gleich wieder da«, sage ich und quetsche mich durch die Lücke in der Hecke, die schon vor dreißig Jahren da war. Ich kontrolliere Türen, Fenster und Dach von dem Haus, in dem Bo wohnte, der bei den Kriegsspielen immer Nazi sein wollte. Ständig wurde er gefangen genommen und mit Krötenpisse gefoltert. Wenn wir ihn anschließend laufen ließen, um ihn auf der Flucht abzuknallen, hörte man seine ekstatischen Sterbensschreie noch zehn Gärten weiter. Manchmal kamen kreidebleiche Touristen angelaufen und fragten, was um Himmels willen los sei. So bekam Bo von den Erwachsenen seinen Spitznamen verpasst: der Bo von Baskerville. In der Bande hieß er weiterhin Gestabo.
Als ich zum Weg zurückkomme, ist Far wieder bei Atem. Wir gehen weiter. Je mehr Häuser wir passieren, desto bewusster wird mir, wie glücklich ich hier war. Wir wohnten zwar in Kopenhagen, verbrachten aber alle Ferien und unzählige Wochenenden hier. Der Höhepunkt waren die Sommerferien; drei Monate am Stück nur draußen sein, Fußball spielen, Tiere studieren, Bo foltern, schwimmen gehen, Mädchen ärgern. Irgendetwas war immer. Mal kam Besuch aus der Familie, blieb ein paar Tage oder Wochen, fuhr wieder, um von dem nächsten Besuch abgelöst zuwerden. Das Gästezimmer war selten frei, und manchmal wurde noch im Garten gezeltet. So lebten wir wochenlang mit Tanten, Onkeln, Neffen und Cousinen zusammen, die wir sonst nur auf Nachmittagsbesuchen gesehen hätten. Man lernte sich anders kennen, besser, alles wurde familiärer. Wenn man Freunde um sich herum haben will, ist es schlau, ein Haus am Meer zu haben. Wow. Wahnsinnserkenntnis – muss ich mir gleich notieren.
Auf dem Hügel schnauft Far wieder schwer. Wir bleiben stehen und schauen uns um. Weiß, so weit das Auge reicht. Und diese Stille. Im Sommer hört man die Autos, wenn sie fünfhundert Meter weiter unten in den Odinsvej einbiegen. Jetzt würde man Fußgänger hören. Stille. So still, dass man die Eichhörnchen klettern hört. Ich liebe das.
»Erinnerst du dich an den Tag, als du ertrunken bist?«
Ich werfe Far einen Blick zu, finde aber keinen Hinweis, worauf er hinauswill, also nicke ich. Ein Sommertag. Ich war schwimmen und trat in ein Loch im Meeresboden. Ich weiß noch, dass ich rufen wollte und Wasser einatmete. Dann weiß ich nichts mehr. Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Sand, und um mich herum standen aufgeregte Erwachsene und Kinder. Neben mir saß mein Vater und lächelte, während ihm die Tränen herunterliefen.
»Ich habe dir also nicht nur das Leben geschenkt, sondern auch noch gerettet. Toll von mir, oder?«
»Zweimal große Klasse«, sage ich und ahne, worauf das hinausläuft.
»Wie wäre es also, wenn du jetzt auch was für mich tust?« »Ich hab dich hergefahren.«
Seine Schultern sacken traurig nach unten.
»Wer braucht da noch Enkelkinder ...« Er strafft sich wieder. »Im Ernst, mach mir endlich ein paar Kinder, ich verspreche dir, das verändert alles.«
»Es ist nicht der richtige Zeitpunkt.«
Er schlägt mit den Armen aus.
»Ach was! Lass los! Vertrau der Sache! Du brauchst keine Angst zu haben, Ameisen finden von alleine ins Haus.«
Ich blicke zum Himmel.
»Oh. Es gibt Schnee.«
Ich setze mich in Bewegung. Er seufzt herzzerreißend und folgt.
Wir gehen den Hügel wieder runter. An den Jensens vorbei, in
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