Beziehungswaise Roman
Als meine Kellnerin merkt, dass es eine Lücke im System gibt, schaut sie wieder mich an, und ihr Lächeln wird breiter. Wir schauen uns sekundenlang in die Augen, und irgendwo tief in mir ruckt etwas. Herrje, ich bin so ausgehungert, dass ein einziges Lächeln reicht, um Pandoras Büchse zu öffnen.
Sune schnippt gegen eine Etikettenkugel. Sie saust zwischen uns hindurch und verschwindet über die Tischkante. Die Kellnerin senkt ihren Blick und zieht sich wieder zurück. Ich folge ihrem Gang, und um es mit Thomas D. zu sagen: Ich spüre Freiheit in mir, das ging aber schnell.
»Er wird immer schneller müde.«
»Er ist zweiundachtzig«, erinnere ich sie und stoße meine Flasche gegen ihre. »Auf seinen Dreiundachtzigsten.«
Sie nickt bloß und rollt eine neue Kugel zusammen. »Wenn er stirbt, sind wir Waisen. Ist doch komisch, oder? Dann sind wir allein. Das waren wir noch nie.«
Ich denke an den müden Ausdruck in Fars Augen und stöhne entnervt.
»Seit hundert Jahren sagen sie uns, dass er stirbt, und er lebt immer noch. Weißt du noch den einen Sommer, als es ihm so schlecht ging? Er wird uns wahrscheinlich überleben und ... jesses , das würde ihn aber nerven!«
Sie hebt den Blick und lächelt.
»O ja, da wäre er echt sauer.«
Wir witzeln eine Runde über die Grabsteininschriften, die er uns verpassen würde, dann nutze ich den Augenblick, um sie in ein Gespräch über Sonderpädagogik zu verwickeln. In ihrem Fall bedeutet das: mehr als zwanzig verschiedene Nationalitäten, die sie im Kindergarten betreut. Das Hauptproblem sind nicht die Kids – die brauchen Sicherheit, Beschäftigung und klare Ansagen, dann können sie spielen, ein bisschen randalieren, Grenzen aufgezeigt bekommen und herausfinden, wie die Dinge funktionieren. Aber dann gibt es ja noch Eltern. In der einen Kultur darf das Kind nicht mit Kindern des anderen Geschlechts spielen, in der nächsten darf es nicht nackt sein, manche Jungs dürfen nicht mit Haushaltsaufgaben erniedrigt werden, manche Mädchen dürfen nicht toben. Manche dunkelhäutigen Kinder sollen nicht mit den Schwarzen spielen, die türkischen nicht mit den kurdischen, die weißen nicht mit den gelben und so weiter. Nicht dass die Kinder sich für diese Regeln interessieren, denen ist das egal. Aber den Eltern eben nicht. Sunes Job ist es, alles so unter einen Hut zu bekommen, dass die Kinder sich wohl fühlen und die Eltern dabei möglichst wenig stören. Das Hauptproblemist die Distanz durch die fehlende gemeinsame Sprache, daher hat Sune angefangen, den Tag digital zu fotografieren, damit die Eltern nachmittags sehen können, was ihr Kind den ganzen Tag gemacht hat. Sie können dadurch natürlich immer noch kein Dänisch, aber bei einem Foto kommt plötzlich Schwung in die Sache. Man lacht und zeigt und lernt ein paar Wörter. Und hat ein bisschen mehr Gemeinsamkeit. In diesem Fall stimmt es, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte.
Sie redet noch ein Bier weg und ist dann betrunken. Ich höre zu und genieße. Sie liebt diesen Job. Er macht Sinn, und sie macht ihn gut. Wie Tess hat sie ihre Berufung gefunden, sie gehen beide in ihrer Arbeit auf. Ein Gefühl, das ich zu gerne wiederhätte.
Kapitel 14
Helles Licht. Warme Decke. Warmer Körper. Bis auf Sunes leises Schnarchen neben mir ist die Wohnung ruhig. Ich bleibe mit geschlossenen Augen auf dem Laken liegen, das wir gestern Abend auf dem Wohnzimmerteppich ausgebreitet haben. Schon bald wachen die beiden drüben im Schlafzimmer auf und reden leise, um uns nicht zu wecken. Far entlockt Edda das erste Kichern des Tages. Ich bleibe liegen und atme es ein. Wie die beiden aufstehen. Das Radio anmachen. Wie Ebba Käffchen macht. Wie Far im Bad abhustet und Ebba derweil das Radio lauter stellt. Wie er duscht und sie Frühstück vorbereitet. Wie er den Tisch deckt und sie duscht. Kleine Wellen fluten mich. Liebe und Dankbarkeit, weil sie mir ein Heim gegeben haben. Einen Ort, an den ich immer wiederkehren kann und sicher bin. Heimat ist auch Gott.
Beim Frühstück unterhalten sich Sune und Ebba über Rezepte. Ich schaufele mein geliebtes Ymer in mich rein. Ein bitterer Joghurt, den die Dänen natürlich sofort mit braunem Zucker und Brotkrumen wieder lecker machen. Far kaut Käsebrot mit Himbeermarmelade, spült mit dem zweiten Käffchen nach und fixiert mich – schon seit geraumer Zeit. Ich ahne schon, worauf das hinausläuft. Er rollt den letzten Schluck im Mund herum, schluckt und nickt mir zu.
»Also, was
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