Bianca Arztroman Band 0031
nicht, den Patienten könnte etwas zustoßen?”
“Warum? Sind sie denn in Gefahr?”
Sie schüttelte den Kopf. “Natürlich nicht!”
“Dann fängst du jetzt am besten mit der Sprechstunde an.”
Im Laufe des Vormittags gab es keine Gelegenheit, sich über die zerbrochene Freundschaft mit Lafe Gedanken zu machen. Kaum hatte sie einen Patienten behandelt, stand der nächste am Empfangstresen.
Michael Ericson war ein Patient, der ihr von dem heutigen Tag im Gedächtnis haften blieb. Er war Direktor einer Nutzholzfarm.
“Womit kann ich Ihnen helfen?”, fragte Suzannah, als sie dem Blick der erschöpften grauen Augen begegnete.
“Ich habe einen Knoten an einer etwas merkwürdigen Stelle”, sagte er.
“Und das ist wo?”, hakte sie mit geschäftlicher Stimme nach.
“Am Hoden.”
“Ich verstehe. Ich sehe es mir am besten an, oder möchten Sie warten, bis Dr. Hilliard wieder im Dienst ist?”
“Hmmm … nein. Wir haben zur Zeit viel auf der Farm zu tun. Ich weiß nicht, wann ich das nächste Mal Gelegenheit habe, herzukommen.”
“Gut. Dann ziehen Sie bitte Ihre Hosen aus.”
Suzannah war Patienten begegnet, die eher große Schmerzen auf sich nahmen, als sich vor einer Ärztin auszuziehen. Aber obwohl sie bemerkte, dass Michael Ericson ein wenig beschämt war, schien er darauf vorbereitet gewesen zu sein.
Nach der Untersuchung sagte sie: “Ich bin fast sicher, dass es sich um ein gutartiges Geschwür handelt. Aber ich möchte mich nicht darauf verlassen. Wir werden es noch mit dem Ultraschallgerät ansehen und eine Röntgenaufnahme machen.”
Er schluckte hart. “Es besteht also die Möglichkeit, dass es Krebs ist?”
“Ja”, erklärte sie ihm ruhig. “Wenn Knoten so aus dem Nichts auftauchen, kann immer die Möglichkeit bestehen, dass es sich um ein Krebsgeschwür handelt. Aber in Ihrem Fall, denke ich, handelt es sich um eine Zyste.”
Nachdem er seine Hose wieder angezogen hatte, sagte er: “Ich danke Ihnen, Doktor.”
Sie nickte. “Das Krankenhaus wird sich wegen eines Termins mit uns in Verbindung setzen, Mr. Ericson.”
Als nächste Patientin war eine alte Dame an der Reihe. Suzannah wollte aufstehen, um ihr in den Stuhl zu helfen. Doch die Frau sagte mit kräftiger Stimme: “Ich bin Alice Cabot. Ich war noch nie bei einem Arzt. Aber meine Söhne haben gesagt, jetzt, da eine Klinik in der Nähe ist, gibt es keine Entschuldigung mehr.”
Suzannah lächelte in das Gesicht, so runzelig wie eine Muskatnuss. “Aus dem Grund sind wir hier, Mrs. Cabot. Was ist das Problem?”
“Alter”, antwortete die betagte Frau. “Ich bin einhundertundzwei Jahre alt, und es fällt mir nicht mehr so leicht, auf meine zwei Jungs aufzupassen.”
“Ihre Söhne?”, wiederholte Suzannah. Sie müssen selber schon Pensionäre sein, dachte sie.
“Ja, sie sind Fischer. Wir sind ein altes Fischervolk, wissen Sie?”
“Dann kennen Sie Winfred Grenfell?”
Ihr Gesicht erhellte sich. “Den Arzt? Natürlich. Mein Vater sprach viel von ihm. Es konnte ein Schneesturm toben, Wind, so scharf wie ein Messer, wenn der Arzt gebraucht wurde, scheute er keine Eiszapfen an seinem Schnurrbart. Seine Hunde schnaubten und dampften nach seinen Besuchen. Nach den Behandlungen blieb er immer noch auf einen schwarzen Tee. Für Zucker und Milch hatten wir kein Geld. Bevor er ging, betete er jedes Mal und las einen Text aus der Bibel.”
“Ich komme aus der gleichen Stadt in England wie Wilfred Grenfell”, erklärte Suzannah der alten Frau.
“Du lieber Himmel!”, rief Alice. “Kann man das glauben? Und nun heilen Sie an demselben Ort wie er.”
“Ja, das tue ich”, antwortete sie mit einem leichten Lächeln.
Jedenfalls im Moment noch … Auch wenn Lafe sie nicht entlassen würde, wusste Suzannah nicht, ob sie die Situation viel länger ertragen konnte.
“Und was führt Sie zu mir?”, fragte sie sanft.
“Als ich jung war, holten wir uns die Linderung direkt aus dem Wald”, sagte die alte Frau, “aber es gibt nichts, was uns jung hält. Können Sie mir etwas verschreiben, damit ich wieder kräftig werde? Oder ist das meine erste Begegnung mit dem Sensenmann?”
“Ich werde Sie zuerst untersuchen. Ich überprüfe Ihre Herz- und Lungenfunktion.”
Als sie fertig war, erklärte Suzannah: “Für Ihr Alter sind Sie in bemerkenswert gutem Zustand, Mrs. Cabot. Ein paar Vitamine und ein wenig Hilfe im Haushalt werden Ihnen gut tun.”
“Dann muss ich meine Jungs noch nicht verlassen?”
“Nein, noch
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