Bibel der Toten
geschichtlichen Themen und stützten ihre Experimente auf ganz bestimmte historische Erkenntnisse. Außerdem haben sie sich ausführlich mit der Geschichte Angkors befasst. Und nach allem, was ihr mir über die Ebene der Tonkrüge erzählt habt … glaube ich langsam zu begreifen, wie das alles zusammenpasst.«
»Ja, und weiter?«
»Nach dem Gespräch mit Barnier begann ich, ausgehend von seinen leider nur sehr spärlichen, aber dennoch hochinteressanten Angaben, eigene Nachforschungen anzustellen. Gerade als Khmer interessiert mich natürlich brennend, was damals in meine Landsleute gefahren ist. Warum wir getan haben, was wir getan haben. Welcher Teufel damals – man kann es nicht anders ausdrücken – in uns gefahren ist. Weshalb das ganze Land in eine kollektive Psychose verfallen ist. Denn die Frage, was damals geschehen ist und warum, ist immer noch nicht befriedigend geklärt. Deshalb will ich die Rätsel der Vergangenheit endlich ergründen. Ich will wissen, wie es zu diesem Wahnsinn kommen konnte.« Er beugte sich vor. »Tatsächlich haben wir in den letzten paar Wochen in Angkor eine Reihe interessanter Funde gemacht, die uns diesbezüglich mehr Klarheit verschaffen könnten, und das umso mehr im Licht der Informationen, die ich von euch gerade erhalten habe. Deshalb will ich euch jetzt zeigen, was ich entdeckt habe. Und dann …« Er sah zum ersten Mal seit längerer Zeit Chemda an, wandte sich aber sofort wieder Jake zu. »Dann fahrt ihr nach Norden weiter. Sofort und so schnell wie möglich. Und ihr versucht, in Chong Sa über die Grenze zu kommen.«
Jake nickte.
»Schon klar. Wir werden bestimmt keine Zeit verlieren.«
Sonisoy schrieb etwas auf einen Notizblock. Dann riss er die Seite heraus und reichte sie Jake. »Das sind Barniers Adresse und Telefonnummer. Er lebt jetzt in Bangkok. Ihr könntet ihn aufsuchen, wenn ihr dort ankommt. Möglicherweise weiß er mehr, als er uns erzählt hat. So, hier müssen wir links.«
Alle drei blickten nach vorn. Die Straße endete an einer glitzernden, von der Morgensonne vergoldeten Wasserfläche: der große friedliche Wassergraben, der Angkor Wat umgab. Jake erinnerte sich, dass Angkor um und auf und wegen Wasser erbaut worden war: riesige, künstlich angelegte Seen, idyllische Barays.
Einige von ihnen waren acht Kilometer lang. Und dazu kamen gewaltige Wassergräben, Reservoire, Bewässerungssysteme und Kanäle, die alle dem Zweck dienten, den Durst der größten Stadt zu löschen, die vor Anbruch des Industriezeitalters erbaut worden war. Vielleicht die größte Stadt, die jemals erbaut worden war. Und jetzt glitzerten die Barays golden und blutig gelb in der glühend heiß in den Himmel steigenden Sonne.
Sie bogen nach links und umfuhren die Barriere aus Wasser. Unter den Banyanbäumen auf der Dammstraße von Angkor Wat standen bereits die ersten Touristenbusse. Aus der Ferne, fand Jake, sahen die langsam über den Damm wandernden Touristen wie die Geister der gerade Verstorbenen aus, die in ergebenem Schweigen den Styx überquerten, um in die Vergessenheit einzugehen.
»Als Erstes gehen wir zum Bayon.«
Dieser Tempel, wusste Jake, lag hinter Angkor Wat. Er befand sich aber noch innerhalb des ursprünglichen Stadtbereichs Angkor Thom.
Eine breite Brücke führte über einen weiteren Wassergraben; ihre Balustraden bestanden aus zwei Nagas, enorm langen steinernen Schlangen mit bedrohlichen Giftzähnen, die, von fauchenden steinernen Dämonen geritten, in alle Ewigkeit die warme Tropenluft verschlangen. Und das Eingangstor selbst war ein Mund, ein riesiger, weit aufgerissener steinerner Mund, über dem sich das abgeklärt lächelnde Gesicht des Gottkönigs Jayavarman befand.
Als sie mit eingezogenen Köpfen unter dem Götterkopf hindurchfuhren, kamen Kinder auf sie zugestürmt, um ihnen allen möglichen billigen Plunder und DVDs und Flaschen mit Trinkwasser zu verkaufen: Mister, Mister, you buy, America good, England good, barang, you buy . Andere kamen von den mächtigen verfallenden Mauern herabgehopst; sie jubelten Jake grinsend zu und machten ihre Augen groß und rund, indem sie lachend ihre Gesichter zusammendrückten.
Überall waren Kinder; sie hockten auf den Balustraden, hingen von Bäumen, spielten, tollten, lachten – lauter Kinder, die fröhlich auf der Straße herumrannten, wie seine Schwester. Er holte seine billige kleine Kamera heraus und machte ein paar Fotos, um die Traurigkeit in die Schranken zu weisen.
Klick.
Das Tuk-Tuk fuhr
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