Bibel der Toten
hatte, stand Jake permanent unter Strom, und er hatte das dringende Bedürfnis, seine Ängste zu artikulieren und sich alles von der Seele zu reden, über seine Paranoia zu sprechen und sie auf diese Weise zu zerstreuen. Deshalb beugte er sich nervös vor und erzählte Chemda und Sonisoy von seinem Telefonat mit Tyrone. Von der landesweiten Fahndung nach ihm. Von der aufgeheizten Atmosphäre in Phnom Penh. Von der Belohnung, die auf seinen Kopf ausgesetzt war.
Chemdas Gesicht wurde immer blasser, über ihre Züge legte sich tiefe Besorgnis. Selbst Sonisoys mönchische Abgeklärtheit geriet ins Wanken.
»Okay«, sagte Sonisoy schließlich. »Das hört sich wirklich nicht gut an. Aber ich weiß, wie ich euch nach Anlong Veng bringen kann. Und auf dem Weg dorthin kommen wir ohnehin in Angkor vorbei. Und in Angkor, hinter den Schutzabsperrungen, haben wir nichts zu befürchten. Zumindest vorerst nicht. Aber wir müssen uns beeilen. Da.«
Er deutete nach vorn. Sie näherten sich einer hohen Mauer. Um sicherzugehen, dass dem Staatssäckel in Phnom Penh nicht ein Touristendollar oder Euro oder Yuan entging, war die hundertdreißig Quadratkilometer große Anlage von Angkor mit Wachen und Zäunen und Mauern und Schlagbäumen gesichert.
Sonisoy sprang von der Ladefläche des Tuk-Tuk, zeigte den Wachmännern seinen Dienstausweis und deutete auf Chemda und Jake, der unter den bohrenden Blicken der Wachleute am liebsten im Boden versunken wäre. Falls diese Männer an diesem Morgen schon eine Zeitung aus Phnom Penh zu sehen bekommen hatten, würden sie ihn bestimmt erkennen. Aber vielleicht war die Nachricht noch nicht so schnell bis hierher durchgedrungen.
Die Anspannung war wie ein einfältiger Popsong aus einem blechern quäkenden Radio, sich ständig wiederholend und nervenaufreibend. Der Wachmann gähnte, musterte Jake ein zweites Mal – und zuckte dann gelangweilt lächelnd mit den Achseln. Sonisoy stieg wieder ein, der Fahrer ließ den kleinen Motor aufheulen, und das Tuk-Tuk ratterte quälend langsam weiter.
»Aber jetzt will ich die Geschichte noch zu Ende erzählen.« Sonisoy seufzte kurz. »Dieser Franzose, Barnier, hat uns erzählt, dass er damals zwar nach Phnom Penh eingeladen wurde, aber nicht zum harten Kern der Gruppe gehörte. Er fühlte sich etwas stiefmütterlich behandelt. Andere Wissenschaftler und Experten – Neurologen, Psychiater, Anthropologen – wurden wesentlich stärker in die Experimente einbezogen. Vielleicht glaubten die Kommunisten, mit Operationen am Gehirn ihr Ziel eher zu erreichen. Jedenfalls war Barnier, als er wieder nach Lyon zurückkehrte, mehr oder weniger noch genauso klug wie vor seiner Ankunft in Kambodscha.«
»Aber was wollte er dann in Angkor? Warum ist er noch einmal hingekommen?«
»Er wurde wohl von seinen Schuldgefühlen getrieben.«
Sonisoy drehte sich zur Seite und beschrieb dem Fahrer kurz den Weg. Dann wandte er sich wieder Jake zu.
»Barnier plagten heftige Gewissensbisse. Er hatte dem Kommunismus schon bald nach seinem ersten Kambodschaaufenthalt abgeschworen. Inzwischen betrachtet er ihn als einen fatalen historischen Irrweg und schämt sich für die Unterstützung und Aufwertung, die das Terrorregime der Roten Khmer damals durch ihn erfahren hat. Viele westliche Maoisten und Linke haben versucht, die Maßnahmen der Roten Khmer zu rechtfertigen. Nicht wenige von ihnen sind heute renommierte Wissenschaftler, Autoren und Politiker. Allerdings weiß ich nicht, wie viele von ihnen sich für das entschuldigt haben, was sie meinem Land angetan haben.« Sonisoy sah Jake unverwandt an. War sein Blick anklagend? Jake wand sich vor mentalem und körperlichem Unbehagen. Die Hitze wurde immer stärker. Seine innere Anspannung hatte schon vor Stunden – Tagen – ihren Höhepunkt erreicht.
Er dachte an den schicksalhaften Abend in Vang Vieng zurück. Damals war er nichts weiter als ein glücklicher, trauriger, von Schuldgefühlen geplagter, gut gelaunter, leicht angetrunkener Fotojournalist gewesen; jetzt wurde er gejagt. Gehetzt wie ein Tier.
»Vermutlich wollte sich Barnier von seiner Schuld reinwaschen«, fuhr Sonisoy fort. »Und er wollte herausfinden, wofür er von den Roten Khmer eingespannt werden sollte. Deshalb ist er nach Angkor zurückgekommen.«
»Warum ausgerechnet nach Angkor?«
»Barnier war während seines ersten Kambodschaaufenthalts zumindest so viel klar geworden: Sowohl die Roten Khmer als auch die Chinesen zeigten starkes Interesse an
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