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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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unter dem Tor durch. Ein paar Minuten verstrichen in angespanntem Schweigen. Das Sonnenlicht flackerte im Laub der Lorbeer–, Bambus- und Kapokgehölze; dunkle, düstere Vögel flogen flatternd davon. Vor ihnen tauchte ein Palast aus gewaltigen Steinköpfen auf.
    Der Bayon.
    »Das ist unsere erste Station.« Sonisoy gestikulierte in Richtung des Fahrers. »Er wartet so lange auf uns.«
    Der Tempel des Bayon war genau so, wie ihn Jake von seinem flüchtigen touristischen Besuch zwei Jahre zuvor in Erinnerung hatte. Eine Reihe großer quadratischer, stufenförmig angelegter Sandsteinterrassen, kunstvoll mit Flachreliefs von Apsaras und Garudas verziert, mit heiteren weiblichen Gottheiten, Devatas und Dvarapalas, und mit Szenen aus dem Khmer-Leben des 12. und 13. Jahrhunderts: Prinzessinnen auf Sänften, Hahnen- und Eberkämpfe, endlos sich entrollende Steintapisserien von hinduistischen Mythen, der Bogen des heiligen Feuers, das Buttern des Ozeans aus Milch, der von Shiva ermordete Liebesgott.
    Jake machte Fotos.
    Das Besondere am Bayon waren die Köpfe. Jede wichtige Stelle des Tempels endete in einem steinernen Turm, der mit einem gigantischen menschlichen Antlitz verziert war, heitere, riesige, rätselhafte Gesichter des Gottkönigs. Jedes lächelnd.
    Sie stiegen eine extrem schmale Steintreppe zum innersten Tempelbezirk hinauf, dem Prasat. Inzwischen war es drückend heiß. Jake schnaufte in der gleichgültigen Sonne. Es war, als kämen sie ihr zu nahe.
    »Jayavarman«, sagte Sonisoy. »Die Köpfe Jayavarmans, hier im Bayon, stehen für den Höhepunkt der Kultur Angkors, für die Apotheose, für den Punkt, an dem der König zum lebendigen Gott und die Gesellschaft vollkommen wird. Viele Leute finden diese Köpfe ein wenig unheimlich. Das liegt wahrscheinlich am schieren Ausmaß der Köpfe und an ihrem immerwährenden Lächeln.«
    Jake konnte das nur bestätigen. Die mächtigen steinernen Antlitze waren beeindruckend, aber irgendwie auch beunruhigend. Vielleicht lag es tatsächlich an diesem breiten abgeklärten Lächeln, das in jedem Gesicht ein wenig anders war. Er musste an ein traurig im Dunkeln lächelndes Gesicht denken, ein großes Gesicht, riesig und immerfort lächelnd. Körperlos.
    »Ich glaube, das ist der Punkt, der in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung ist.« Sonisoy deutete auf den nächsten der gigantischen Köpfe. »Seht euch das mal an.«
    »Was?«, fragte Chemda.
    »Da.«
    »Tut mir leid, aber ich sehe nichts!«
    Chemda streifte ihre Flipflops ab und kletterte auf eine Balustrade, um besser sehen zu können. Jake schaute auf ihre Fußgelenke. Auf ihren grazilen linken Knöchel war ein winziger Skorpion tätowiert. Sonisoy deutete noch einmal.
    »Seht euch die Stirn des Gottkönigs an. Die Raute, die in seine Stirn gemeißelt ist – wie ein Loch im Kopf. Sie steht für das dritte Auge der Hindu-Mythologie: für den Sitz der Seele, für den Ort im menschlichen Körper, an dem Gott wohnt. Nehmt zum Beispiel den Bindi der indischen Frauen, den roten Punkt auf der Stirn – er hat genau den gleichen Hintergrund. Behaltet das also bitte im Gedächtnis. Es ist nämlich sehr wichtig für das, was ich euch jetzt im Preah Khan zeigen werde. Kommt, wir haben nicht mehr viel Zeit.«
    Halb hüpften, halb rutschten sie die schlüpfrigen Steinstufen hinunter. Sonisoy ging ihnen voran, vorbei an der Terrasse der Elefanten und an der Terrasse des Lepra-Königs mit seinen tanzenden Dämonen und manischen Garudas, die mit ihren weit aufgerissenen Sandsteinschnäbeln lautlos den gleichgültigen Wald ansangen wie gehäutete wagnerianische Walküren.
    Die unbefestigte Straße zum Westtor von Angkor Thom war buchstäblich vom Dschungel überwuchert. Affen verschwanden, von Ast zu Ast schwingend, zwischen den Lianen und Kapokbäumen. Der Lärm der Insekten war ohrenbetäubend. Das hysterische Zirpen der Zikaden war so laut, als brüllte der ganze Wald vor Wut – oder Schmerz.
    Sonisoy führte sie durch ein weiteres klaffendes großes Tor, über dem der Kopf eines Gottkönigs thronte, und dann gerieten sie in noch unwegsameren Dschungel. Spinnennetze säumten den Weg, unsichtbar, aber umso deutlicher zu spüren. Angewidert spuckte Jake sie aus seinem Mund. Durchsichtige Luchsspinnen huschten seinen Arm hinauf, bis er sie fortschnippte. Chemda schlug sich mit den roten Ameisen herum, die sich in ihrem Haar verfingen. Widerlich klebrige Lianen klammerten sich an ihre Arme und Beine.
    Sonisoy drehte sich mit

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