Bibel der Toten
einem mitleidigen Lächeln zu ihnen um.
»Nur wenige wagen sich so weit in den Dschungel vor – zum Preah Khan, einem der ältesten Tempel von Angkor. Ursprünglich eine Universität. Hier.«
Ein Stück vor ihnen erhob sich, riesig und alt, ein Tempel aus der üppigen Vegetation. An den Ecken bewachten Garudas die verfallenen Mauern, am Eingang lagen lauernde Nagas, auf der Eingangsterrasse hielten kopflose Götterstatuen Wache.
»Hier durch, und dann immer geradeaus … jetzt links, einfach da lang …«
Es war ein Irrgarten aus dösendem Sonnenlicht, uralter Dunkelheit, umgestürzten Steinsäulen und verstümmelten Steinbuddhas. Einfriedungen, Gopuras, zum Teil von Säulen gesäumte Durchgänge und dann lange, verfallene Korridore, in denen Scharen von Fledermäusen nisteten.
»Diese Anlage ist ja riesig«, bemerkte Chemda staunend.
»In der Blütezeit von Preah Khan lebten in der dazugehörigen Stadt zwanzigtausend Menschen«, sagte Sonisoy. »Aber wir wissen nicht, was sie an dieser Universität studiert haben.«
Schließlich blieb er vor einer Art offenem Kreuzgang stehen, dessen Rückwand an den Dschungel grenzte.
»Dieser Ort …«, Sonisoy machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm, »… ist einzigartig in Angkor. Es ist das einzige Bauwerk mit runden Säulen. Möglicherweise so etwas wie eine heilige Bibliothek. Was sie allerdings enthielt …«
Es war ein dachloser Pavillon, anmutig, leer, verlassen. In den Fensteröffnungen hingen, wie Sternbilder, riesige Spinnennetze.
»Bücher«, sagte Chemda. »Wahrscheinlich wurden hier Bücher aufbewahrt, Pergamentrollen, hölzerne Tafeln, aber wahrscheinlich sind sie im Lauf der Zeit alle kaputtgegangen …«
»Ja.« Sonisoy winkte sie zur Seite. »Stein dagegen bleibt so gut wie unversehrt, wenn er in der Erde vergraben ist. Seit Monsieur Barniers Besuch im vergangenen Jahr haben wir an allen möglichen Stellen der alten Bibliothek gegraben, und letzte Woche haben wir das hier gefunden.«
Er deutete auf einen Haufen Schutt. Dahinter befand sich ein zweiter, mit einer staubigen Plastikplane abgedeckter Haufen.
Wie ein Zauberer zog Sonisoy die große Plastikplane mit einer schwungvollen Bewegung weg. Jake schaute. Es war immer noch ein Haufen Schutt. Waren Sie den weiten Weg hierhergekommen, um sich ein paar alte Steine anzusehen?
»Onkel, ich …«
»Schaut genau hin.«
In dem Trümmerhaufen waren zwei größere steinerne Bauelemente zu erkennen: stark korrodierte, mit Reliefs verzierte Giebel; in den Stein gemeißelte Apsaras und Garudas, das übliche mythologische Personal.
»Na schön. Und?«
Sonisoy seufzte in der erstickenden Hitze.
»Ihr habt hier Reliefs aus einer der bedeutendsten Bibliotheken überhaupt vor euch, mitten im intellektuellen Zentrum von Angkor, das zu seiner Zeit die größte Stadt der Welt war. Sie müssen uns etwas Wichtiges mitteilen …«
»Dann sag uns, was das so Wichtiges ist«, drängte Chemda. »Und vor allem bitte schnell!«
»Natürlich.« Sonisoy wandte sich seiner nichte zu. »Wir kennen doch alle die Prophezeiung, oder? Jeder Khmer lernt sie schon als Kind: Eine große Dunkelheit wird sich über das Volk von Kambodscha legen. Da werden Häuser sein, aber keine Menschen darin; Straßen, aber keine Reisenden.«
Chemda sprach die Prophezeiung für ihn zu Ende. »Das Land wird von Barbaren ohne Religion beherrscht werden; das Blut wird so hoch stehen, dass es den Bauch des Elefanten berührt. Nur die Tauben und die Stummen werden überleben.«
»So«, sagte Sonisoy und deutete auf den Giebel. »Hier ist der Bauch des Elefanten. Hier ist das Meer aus Blut.«
Jake kniete nieder, um die Reliefdarstellungen aus der Nähe zu betrachten. Aber selbst so war kaum zu erkennen, was Sonisoy meinte. Das hier hätte ein Elefant sein können und das dort ein Meer, eine große Wasserfläche – oder auch Blut. Aber eines war in dem Relief ganz deutlich zu erkennen, wenn man es aus nächster Nähe betrachtete. Eines war nicht zu übersehen.
»Das ist ja ein Krug! Genau so ein Krug, wie wir sie in Laos auf der Ebene der Tonkrüge gesehen haben! Heißt das, auf diesem Relief ist abgebildet, was mit den Menschen damals in Laos geschehen ist?«
»Ja, hier ist zu sehen, was damals mit den Schwarzen Khmer passiert ist.« Sonisoy nickte.
Sein kahler Schädel war von Schweißperlen überzogen. Er löste seinen Krama von der Hüfte und tupfte damit seinen Kopf ab, bevor er sich wieder den Reliefdarstellungen zuwandte. »Als du
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