Bibel der Toten
kurze Anweisungen auf Khmer. Das Tuk-Tuk ordnete sich in den Verkehr ein, und sie machten sich auf den Weg zu den großen Tempeln von Angkor: Bayon, Angkor Thom, Angkor Wat, Banteay Srei, Östlicher Mebon.
Jake spähte durch die Windschutzscheibe und dachte an seinen ersten Besuch in Angkor. Wie die anderen Touristen war er kilometerweit an verfallenen Heiligtümern und Palästen entlanggewandert, vorbei an den Gopuras und Lingams und den Terrassen mit Garudas , die von Orchideen, Lianen und Würgefeigen des Dschungels überwuchert wurden – und er war aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen.
Er hatte Angkor als einen im wahrsten Sinn des Wortes magischen Ort in Erinnerung. Die majestätische Rätselhaftigkeit dieser grandiosen Anlage hatte sogar seine gottlose Seele berührt: diese Stadt mit ihren tausend Jahre alten Bauwerken, in der einmal eine Million Menschen gelebt und gebetet hatten und die jetzt von giftigen Tausendfüßlern und Springspinnen heimgesucht wurde – und von Busladungen japanischer Touristen, die neben den Bodhisattvas von Phnom Bakheng für Sonnenuntergangsfotos Schlange standen.
Aber dieser Besuch war völlig anders. Strapaziös, nervenaufreibend, gefährlich. Die kühle Morgenluft protzte bereits mit dem Versprechen drückender Hitze, als das Tuk-Tuk auf der langen geraden Straße in nördlicher Richtung nach Angkor tuckerte. Affen spielten am Straßenrand mit den fasrigen grünen Hüllen herabgefallener Kokosnüsse; Straßenhändler fuhren, ihre Fahrräder mit Kühlboxen voll kalter Getränke bepackt, zu ihren Standplätzen; Dorfbewohnerinnen in blauweiß karierten Kramas wuschen unter wasserspuckenden Handpumpen nackte Kleinkinder.
Chemda sagte zu Sonisoy: »Onkel, könntest du Jake erklären, worüber wir gestern Abend gesprochen haben?«
Sonisoys Nicken war angespannt.
»Vor etwa einem Jahr haben wir einen Franzosen kennengelernt, der zu Forschungszwecken nach Angkor Wat gekommen ist. Er hieß Marcel Barnier und interessierte sich besonders für den Preah Khan, in dem wir damals gerade tätig waren. Wir luden ihn zu einem unverbindlichen Meinungsaustausch ein.«
»Wer ist wir?«
»Unser Konsortium. Samsara. Wir haben in Siem ein Büro und restaurieren mit Unterstützung der EU und Chinas die Tempel. Angkor ist Weltkulturerbe.«
Sie kamen an einem riesigen, noch im Bau befindlichen Hotelklotz vorbei. Auf dem Parkplatz verkaufte ein Mann getrocknete Schlangen und gekochte Eier. Er glotzte das Tuk-Tuk vollkommen ausdruckslos an, ohne den leisesten Anflug eines Lächelns oder Stirnrunzelns.
»Barnier, dieser Franzose, war schon ziemlich alt. Mitte sechzig, vielleicht sogar siebzig.«
»Was wollte er in Angkor?«
»Neunzehnhundertsechsundsiebzig war anscheinend eine Gruppe marxistischer Wissenschaftler und Intellektueller aus dem Westen nach Kambodscha eingeladen worden. Sie sollten den Chinesen und den Roten Khmer helfen, eine Art marxistischen Idealmenschen zu schaffen, einen hundertprozentig überzeugten Kämpfer für die kommunistische Sache.«
»Etwa mit Hilfe chirurgischer Eingriffe am menschlichen Gehirn?«
Sonisoy zuckte mit den Achseln. Sein T-Shirt war alt, aber sauber, mit einem diskreten kleinen Bild des jungen Elvis Presley auf der Brusttasche. Er blickte die verlassene Straße hinunter. Jake spähte in dieselbe Richtung, um festzustellen, ob dort Polizisten oder Soldaten waren, sprich: Gefahr. Nichts. Die Straße war wie leer gefegt, geradezu gespenstisch.
»Barnier hat zwar nichts dergleichen erwähnt«, fuhr Sonisoy fort, »aber nach allem, was du und Chemda mir erzählt habt, bin ich inzwischen ziemlich sicher, dass die Roten Khmer damals Experimente durchgeführt haben müssen, die genau in diese Richtung zielten. Experimente am lebenden Gehirn.«
»Aber wieso wusste Barnier nichts von solchen Eingriffen, wenn er dieser Gruppe von Wissenschaftlern angehört hat?«
»Barniers Spezialgebiet war die Kreuzung von verschiedenen Spezies. Von Menschen und Affen. Auch damit haben die Kommunisten experimentiert. Wobei die ersten Versuche in dieser Richtung bereits in den zwanziger Jahren in der Sowjetunion durchgeführt wurden. Allerdings …« Sonisoy sah über Jakes Schulter zu einem Auto, das sich ihnen rasch näherte. Seine Miene spannte sich an. Jake drehte sich erschrocken um.
»Keine Angst«, beruhigte ihn Sonisoy. »Das sind nur Parkaufseher. Wir sind nicht mehr weit vom Eingang entfernt. Nur keine Aufregung.«
Aber nach allem, was Tyrone ihm erzählt
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