Bibel der Toten
mir gestern Abend von den Steinkrügen erzählt hast, musste ich sofort an diese Reliefs denken. Jetzt ergibt plötzlich alles einen Sinn. Hier sind Menschen abgebildet, Schwarze Khmer, die Löcher in den Kopf gebohrt bekommen, um zu perfekten Kriegern zu werden. Seht ihr, hier ist dargestellt, wie ihnen die Stirn aufgebohrt wird.« Er deutete auf ein Relief. »Und hier – und hier – ist die Metamorphose zu sehen, die sich dadurch in ihnen vollzogen hat. Die Verwandlung von devoten Bauern zu stolzen Khmer-Kriegern. Nachdem ihnen der Kopf aufgebohrt worden ist. Und da sind wahrscheinlich vietnamesische Gefangene zu sehen, die nach den siegreichen Schlachten der Khmer enthauptet wurden.«
Auch das war deutlich zu erkennen: eine Reihe abgeschlagener Köpfe. In dem Relief war eindeutig ein großer militärischer Triumph der Schwarzen Khmer in der Ebene der Tonkrüge abgebildet. Jake schoss ein paar Fotos; technisch minderwertige Aufnahmen, aber dennoch Beweise. Khmer mit trepanierten Schädeln …
Aber Beweise wofür?
Sonisoy fuhr fort: »Und dort, in der nächsten Reliefdarstellung, sind die Krüge und die weinenden Frauen zu sehen. Das viele Blut und das ungeheure Ausmaß der Gewalt, das Verbrennen der Gebeine, ein Massenselbstmord. Ihr seht also, es ist eine Geschichte, es ist die Geschichte …«
»Eine Geschichte worüber?«
»Wer weiß. Jedenfalls …«
Sonisoy wurde von einem Geräusch unterbrochen, einem lauten Rauschen. Es kam aus dem Funkgerät an seinem Gürtel. Jake nahm an, dass man in einer so weitflächigen Anlage wie Angkor unbedingt so ein Gerät brauchte, um sich verständigen zu können.
Sonisoy nahm das Funkgerät von seinem Gürtel und meldete sich. Seine Miene verdüsterte sich. Er sagte ein paar wütende Worte in das Gerät und sah dann Chemda an.
»Das war gerade der Pförtner, ein Freund mir. Er wollte mich warnen. Jemand hat euch entdeckt. Die Polizei, sie sind bereits hier; sie umstellen den Tempel …«
Chemda packte Jakes Hand und sah ihren Onkel bestürzt an. »Wie kommen wir am schnellsten von hier weg?«
»Dafür ist es zu spät. Wir müssen uns verstecken – kommt.«
Wilde Panik schrillte durch Jakes Körper wie eine nächtliche Feuersirene. Sonisoy führte sie rasch über umgestürzte Säulen und Schutthaufen, durch ein kleines leeres Fenster, das in eine schwach beleuchtete, längliche Kammer führte, in ein Grab aus ungelüfteter Hitze.
Der kleine Raum war genau in der Mitte des Tempels verborgen, im fledermausverseuchten Kern von Preah Khan. Die drei drückten sich mit dem Rücken an die Wand. Jake konnte den kalten Schweiß spüren, mit dem sich der Stoff seines Hemds vollgesogen hatte. Chemda stand neben ihm, ihr Gesicht eine schweißglänzende wächserne Maske des Unbehagens, ihr gehetzter Herzschlag an ihrem Hals deutlich erkennbar.
Und was jetzt?
Fürs Erste waren sie in Sicherheit. Aber zugleich saßen sie im dunklen Herzen von Preah Khan in der Falle. Früher oder später würden sie entdeckt, in einer Minute oder in fünf oder zehn. Jake war vogelfrei. Er käme ins Gefängnis. Falls er es überhaupt so weit schaffte. Sicher fänden sie einen Grund, ihn schon vorher zu erledigen. Sie waren in Kambodscha. Ein Menschenleben zählte hier nicht viel.
Jake starrte an die gegenüberliegende Tempelwand. Sie war mit einem steinernen Fries verziert. Es stellte eine Reihe lächelnder Frauenköpfe dar.
25
D ie Dämoninnen starrten ihn an. Inzwischen konnte Jake die Polizisten deutlich hören; jugendliche Khmer-Stimmen, die einander Befehle zuriefen. Auf die gegenüberliegende Wand fiel blendend helles Sonnenlicht, dann flitzte ein Schatten über sie, der Schatten eines Mannes. Einer aus der Meute ihrer Verfolger.
»Hier lang«, flüsterte Sonisoy. Er deutete und winkte. Sie folgten ihm. Die steinernen Gänge wurden enger. In der Helligkeit eines schmalen Lichtschachts wuchs eine Würgefeige aus einem Architrav; ihre dicken Wurzeln waren wie Muskeln und Sehnen, die das alte Mauerwerk unerbittlich niederrangen. An einem im Sonnenlicht funkelnden Netz hing, heilig und scharlachrot, eine Spinne.
Sie duckten sich unter das Netz hindurch. Ein weiterer Gang, neue Stimmen. Die Polizisten strömten in das frühzeitliche Labyrinth von Preah Khan. Es hörte sich an, als kletterte mindestens ein Dutzend von ihnen durch die Gopuras; andere patrouillierten an den Naga-Balustraden entlang und richteten Taschenlampen und Pistolen in tausend Jahre alte Alkoven, wo sich blinde weiße
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