Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
Vom Netzwerk:
weit entwickeltes Entenembryo enthielt. Jake hatte Mühe, nicht das Gesicht zu verziehen, als er die dünne weiße Schale abpulte. Und da war es, wie erwartet: ein schleimiges Etwas, halb Ei, halb Entenfetus; mit kleinen Federn, Hirn, Schnabel und Schwimmfüßen, glibberig und grau, fast schon bereit, auszuschlüpfen, fast schon bereit, loszuwatscheln, und alles vermengt mit dunkelgelbem Eierpamp.
    Er konnte schlecht nein sagen. Dieser Dorfbewohner rettete ihnen das Leben. Deshalb wollte er ihn auf keinen Fall beleidigen. Stück für Stück, Knochen für Knochen schob sich Jake mit geschlossenen Augen das Ei in den Mund. Er spürte das Knacken des Brustkorbs des kleinen Vogels und die galertartige Masse seines Gehirns zwischen seinen Zähnen, fast so, als kaute er Schlick. Es schüttelte ihn, und er bekam heftige Schuldgefühle, die Schuldgefühle eines Fleischfressers. Trotzdem aß er. Denn er hatte Hunger.
    »Wir können …«
    Es war Chemda. Jake schluckte den letzten Rest Balat hinunter und stand auf. Ein Toyota Hilux, unerwartet sauber und neu, stieß rückwärts auf die Lichtung. Dorfbewohner beluden ihn mit Körben voller Früchte: Äpfel, Mangostanen, Papayas, violette Drachenfrüchte und riesige, mit grünen Stacheln bewehrte Durian.
    Jake und Chemda kletterten auf die Ladefläche des Pick-ups und versteckten sich zwischen den Körben. Der widerlich süße Kloakengestank der Durian war kaum auszuhalten, aber ein besseres Versteck gab es nicht.
    Zum Schluss befestigte der alte Mann eine Art Plane über der Ladefläche und flüsterte Jake und Chemda in der Enge ihres dunklen Verstecks noch kurz etwas zu.
    »Aw kohn«, sagten Jake und Chemda gleichzeitig.
    Der Motor des Pick-ups sprang an. Es ging los.
    Die Fahrt war lang und heiß, und Jake verbrachte sie damit, Chemda zu betrachten. Sie schlummerte direkt neben ihm, war in Sekundenschnelle eingeschlafen. Er spürte ihre Erschöpfung förmlich. Nur deshalb konnte sie in dieser drückenden Enge schlafen, in der Hitze und dem Gestank der Durian auf der Ladefläche des durch die endlosen Schlaglöcher des National Highway 67 holpernden Pick-ups.
    Auch Jake döste halb wach, halb schlafend vor sich hin. Seine Gedanken begannen unkontrolliert zu wandern. Der Gestank der Durian erinnerte ihn an die Toiletten in der Sommerhitze des Musikfestivals von Glastonbury, das er als Jugendlicher einmal besucht hatte. Der Fahrer des Pick-ups schaltete unablässig herauf und herunter. Jake dachte an seine Schwester: wie sie auf die Straße gerannt war, wie ihr kleiner Körper gegen das Auto geprallt war. Becky, Rebecca. Warum hielten sich die Schuldgefühle so hartnäckig? Er konnte doch nichts dafür. Weder für den Tod seiner Schwester noch für den seiner Mutter, und doch ließen ihn die Schuldgefühle nicht aus ihren Klauen. Sie konnten ihn mal.
    Er langte zu seinem Rucksack hinunter, öffnete den Reißverschluss, kramte seine Geldbörse heraus. Ertastete mit zwei Fingern das Foto von Rebecca, zog es heraus und sah es im Halbdunkel aus nächster Nähe an. Ihr unsterbliches Lächeln, ihr schuldloses, glückliches Lächeln. Fünf Jahre alt und dann einfach ausgelöscht. Die Trauer zog an ihm wie eine unerbittliche Unterströmung, wie ein gewaltiger Sog, dem er sich nicht widersetzen konnte. Vielleicht wollte er sich ihm auch gar nicht widersetzen. Lass einfach los. Lass einfach alles los.
    Er steckte das Foto in seine Brusttasche und knöpfte sie zu. Er wollte es ganz nah bei sich haben; warum, wusste er nicht. Dann schloss er die Augen und versuchte zu schlafen, aber es gelang ihm nicht; stattdessen verfiel er in einen Dämmerzustand.
    Von draußen drangen flüchtige Fetzen menschlicher Stimmen zu ihm herein, wenn der Pick-up durch kleine Dörfer fuhr. Jake veränderte seine Haltung und rieb sich die Augen. Unter der Plane war es dunkel; nur in einem lose flatternden Zipfel Licht am Heck des Pick-ups waren Staub und Straße und Reisfelder zu sehen, die nach hinten verschwanden, während sie immer weiter nach Norden fuhren.
    Er musste an seine Mutter denken. Wie war sie gestorben? Damit wollte er sich jetzt nicht befassen. Er dachte an die Dämonenköpfe, an die Frauen auf dem Fries, die ihn angestarrt hatten, als sie sich im dunklen Herzen von Preah Khan versteckten. Er dachte an Sonisoy, seinen gellenden Schrei. Auf einmal starben alle, es war die Stunde null, der Tag null, das Jahr null; sie säuberten die Stadt seines Lebens; die Menschen fielen einfach in den Rinnstein

Weitere Kostenlose Bücher