Bibel der Toten
wieder Rouvier. »… den die Menschen vor etwa vierzigtausend Jahren in ihrer kulturellen Entwicklung und in ihren kognitiven Fähigkeiten gemacht haben.«
»Was sich woran zeigt?«, fragte Rouvier.
»Nun, zuallererst durch die Entstehung der Kunst – durch die Höhlenmalereien. Aber es gibt in dieser Zeit auch andere Anzeichen, dass die Menschen plötzlich ihr Verhalten geändert haben, Anzeichen fortgeschrittener und abstrakter Kognition. Die Jagdmethoden werden deutlich raffinierter und effektiver – Tiere werden zusammengetrieben und in Abgründe gehetzt, was von einem gehörigen Maß an Planung zeugt. Musik und Gesellschaftsspiele kommen auf, es werden fortschrittlichere Knochenwerkzeuge hergestellt, Stämme treiben Handel miteinander; und die religiösen Rituale, zu denen auch nach festen Regeln ablaufende Begräbnisse gehören, werden deutlich komplexer. All diese Verhaltensformen unterscheiden Homo sapiens deutlich von früheren HominidenArten wie Homo erectus oder Homo neanderthalensis. Letztlich läuft es also darauf hinaus, dass wir vor etwa vierzigtausend Jahren ganz plötzlich in vollem Umfang menschlich geworden sind.«
»Wie kam es zu dieser Veränderung?«
»Was diese Frage angeht, gibt es im Wesentlichen zwei Theorien. Der ersten zufolge kam es zu einer abrupten genetischen Mutation in der menschlichen DNA, die andere geht von einer Veränderung der neuronalen Strukturen des Gehirns aus, also von einer Evolution des Gehirns selbst. Möglicherweise in den Frontallappen! Aber mit Sicherheit sagen kann das natürlich niemand.«
Das Rauschen des Pariser Verkehrs sickerte in die ruhige Wohnung.
»Und Sie glauben, Professor Quoinelles hat Untersuchungen in dieser Richtung angestellt?«
»Das halte ich für sehr wahrscheinlich, ja. Nein, sogar sicher. Sehen Sie sich doch nur den Titel seines Artikels an. Die Entstehung von Schuldbewusstsein und Gewissen in den paläolithischen Höhlen Frankreichs und Spaniens. Außerdem wissen wir, dass er sich ganz besonders für die trepanierten Schädel interessiert hat. Seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten hat er, noch als Student, in Lozère unternommen, wo er vermutlich auch die Theorien von Prunières kennengelernt hat, und … und wir wissen auch, dass Annika Expertin für die Höhlenkunst von Lascaux und Gargas war …«
Rouvier hob die Hand. »Meinen Sie damit die Schädel, die Sie kürzlich gefunden haben, und die auf ähnliche Weise versehrten Schädel und Knochen, die Pierre-Barthélemy Prunières hundert Jahren zuvor in derselben Region entdeckt hat?«
»Natürlich, aber …«
»Und weil dieser Prunières einmal Cochinchina erwähnt, glauben Sie, dass das alles etwas mit den Morden zu tun hat … die von dieser asiatischen Killerin, möglicherweise einer Kambodschanerin, begangen worden sind. Verstehe ich Sie da richtig?«
»Ja.« Julia spürte, wie sie errötete. Sie ärgerte sich ein wenig über sich selbst, dass sie ihre Ideen nicht mit mehr Nachdruck verfocht.
Rouvier seufzte. »Aber was ich immer noch nicht verstehe. Wie soll das alles zusammenhängen?«
»Das weiß ich auch nicht – aber ich weiß, dass irgendein Zusammenhang besteht! Anders kann es gar nicht sein! Ich kann nur noch nicht sagen, worin er konkret besteht.« Den letzten Satz stieß sie fast stammelnd hervor. Warum war ihre Stimme kurz vor dem Überschnappen? Warum reagierte sie so emotional?
In der Wohnung war es auffallend still. Alex starrte leicht verlegen auf das verdunkelte Fenster.
Absurderweise kam sich Julia vor, als hätte sie Rouvier enttäuscht, so, wie sie ihren Vater einmal enttäuscht hatte; aber sie fühlte sich auch ungerecht behandelt. Sie konnte sich den Inhalt des verschwundenen Artikels nicht einfach aus den Fingern saugen, sie brauchte Zeit und Anhaltspunkte und vielleicht auch Glück. Und wenn sie genügend Zeit bekam, würde sie vielleicht sogar beweisen können, dass sie mit ihren Vermutungen richtiglag. Denn sie hatte recht. Dieser Gedanke beflügelte sie geradezu: Ich habe recht.
Und sie hatte nicht nur recht, sie wiederholte mit Sicherheit lediglich die brillante Hypothese eines anderen Wissenschaftlers. Die von Ghislain. Es ärgerte sie sogar ein wenig, dass Ghislain schon lange vor ihr zu diesem Schluss gelangt war. Damals, an ihrem letzten Tag in der Höhle, war ihr alles so schlüssig vorgekommen, weil sie dieses tiefe Schuldbewusstsein in den uralten Megalithen und Knochen gespürt hatte. Aber allem Anschein nach war Ghislain – die
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