Bibel der Toten
große, dunkle Gestalt, und Julia konnte das blasse Gesicht des Grabungsleiters sehen. Auf ihr Schreien hin hatte er seine Taschenlampe angemacht.
»Ghislain!« Ihr Herz schlug immer noch wie wild. »Haben Sie mich erschreckt! Wieso schleichen Sie hier unten im Dunkeln herum?«
Er kam näher. Seine dunklen Lederklamotten quietschten in der feuchten Höhlenluft leise.
»Miss Kerrigan, ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber es war nirgendwo Licht zu sehen. Deshalb habe ich mir Sorgen gemacht. Ich dachte, Annika wäre mit Ihnen hier unten.« Sein Gesicht war grau und hinter dem blendenden Schein seiner Taschenlampe schwer zu erkennen. »Wo ist Annika?«
Julia spürte, wie das Zittern nachließ – sehr langsam. Es war nur Ghislain. Nur Ghislain Quoinelles, ihr Chef. Aber ihre Angst war sehr real gewesen: die dunkle Gestalt, die so bedrohlich, so riesig den engen unterirdischen Gang heruntergekommen war. Wie ein wildes Tier. Vielleicht hatte sie zu viele der lokalen Legenden gelesen, vom Werwolf der Margeride, von la Bête de Gévaudan . Die Monster und die Totenschädel und die bedrückende Dunkelheit.
Die verstümmelten Schädel.
»Annika ist heute zu Hause geblieben«, stieß sie aufgeregt hervor. »Sie hat eine Erkältung. Aber nichts Tragisches.«
»Und Ihr Licht? Was ist mit Ihrer Lampe?«
Julia kniete nieder und hob den Helm auf, den sie in ihrer Panik hatte fallen lassen. »Ich habe nicht aufgepasst – und dann war plötzlich die Batterie leer. Sehen Sie?« Sie tippte gegen die Glasscheibe der Stirnlampe. »Kein Saft mehr. Aber es gibt einen Grund, warum ich nicht auf meine Lampe geachtet habe, Herr Professor.«
»Ach ja?«
»Ich glaube, ich habe etwas entdeckt. Endlich.«
In seiner Miene lauerte ein Funke verschlagener neugier. Wie bei einem alten Schwerenöter, der eine naive Unschuld mustert.
»Und was haben Sie gefunden?«
Sie kauerten am Rand des Gangs nieder. Julia hielt die Taschenlampe hoch, während Ghislain sich zu ihren Funden hinabbeugte. Er fasste mit seinen großen bleichen Händen nach dem Schädel und hob ihn hoch.
» Oui, oui . Jetzt verstehe ich. Natürlich …«
Ghislain kauerte so dicht neben ihr, dass sie in der Kälte seine Körperwärme spüren konnte. Der stechende Geruch seiner Lederkleidung stieg ihr in die Nase. Was hatte er bloß mit seinen komischen Lederklamotten? Ghislain Quoinelles zog sich dreißig, wenn nicht sogar vierzig Jahre zu jung an. Sein aktuelles Outfit aus Lederjacke und -jeans war besonders peinlich. Und auf seinem Kopf thronte, wie gewohnt, seine schwarz gefärbte Schmalzlocke. Einfach lächerlich.
Julia schlang die Arme fest um ihren Oberkörper und fragte sich, ob sie zu streng mit Ghislain war und nur ihrem Ärger über seinen furchterregenden Auftritt Luft machen wollte. Aber warum musste er auch so eigenartig angeschlichen kommen? Vielleicht hatte er tatsächlich irgendwelche Hintergedanken. Er war jedenfalls ein ziemlich seltsamer Mensch.
Sie wusste nicht viel über seine Vergangenheit; nur dass er vor langer Zeit eine bekannte Persönlichkeit gewesen war, ein linker Studentenführer, ein soixante-huitard : ein aus der Oberschicht stammender Wortführer der Pariser Studentenunruhen vom Mai 1968. Annika hatte ihr einmal ein paar Schwarzweißfotos von ihm gezeigt, grobkörnige Schnappschüsse eines gutaussehenden Ghislain, wie er an der Spitze eines Demonstrationszugs ging oder an einem Sitin teilnahm, Zeitungsausschnitte eines Interviews, das Le Monde mit ihm geführt hatte, und Porträts von ihm und dem »Roten Dany« und anderen Galionsfiguren der Studentenbewegung.
Er war also einmal ein großer, kluger junger Kommunist gewesen – in einem Land, das ein ausgesprochenes Faible für rebellische Intellektuelle mit Sex-Appeal hegte. Er hatte einmal eine glänzende Zukunft vor sich gehabt. Doch jetzt war er unerklärlicherweise ein alternder Professor, der in einem abgelegenen Teil Frankreichs ein eher unbedeutendes archäologisches Projekt leitete. Vielleicht war die absurd jugendliche Kleidung einfach Ghislains Art, sich an die Phase seines Lebens zu klammern, in der er sich noch im Glanz seines Ruhms gesonnt und noch keine so peinliche Frisur gehabt hatte.
In der Kälte der Höhle überkam Julia ein Anflug von mitleid mit Ghislain. Sie wollte ihn nicht unsympathisch finden. Grundsätzlich wollte sie niemanden unsympathisch finden. Das war reine Zeitverschwendung.
Außerdem war sie jetzt darauf angewiesen, dass er ihren Fund autorisierte. So
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