Bibel der Toten
den mickrigen Bau zu erdrücken; die jämmerlich kleine Grenzstation mit den jämmerlichen Männern darin hatte leise rappelnd zu beben begonnen.
Der Sieg ließ nicht lange auf sich warten. Die Grenzbeamten ergaben sich. Die Hände flehentlich über ihre Köpfe erhoben, verneigten sie sich hinter den schmutzigen Glasscheiben unterwürfig. Sie machten den tiefen wai , den samphae , der totale Unterwerfung signalisierte.
Der dickste kambodschanische Grenzbeamte winkte Chemda und Jake hinter den Schlagbaum und in seinen kleinen Verschlag. Seine Hände zitterten, und sein pausbäckiges Gesicht glänzte vor Schweiß.
Mit einem besorgten Blick auf die Menschenmenge hinter dem Schlagbaum ließ er sich wortlos ihre Pässe geben.
Er stempelte Chemdas Pass ab, er stempelte Jakes Pass ab. Dann winkte er sie mit derselben stummen, resignierten Unterwürfigkeit durch. Seine Miene schien zu sagen: Gehen Sie einfach. Bitte. Gehen Sie. Schnell.
Aber Jake hatte es nicht eilig. Er wollte diesen Moment auskosten, diesen kurzen belebenden Moment des Triumphs inmitten der Tragik ihrer Flucht. Chemda ging auf Rittisak zu, der lächelnd in der vordersten Reihe stand, und umarmte ihn.
Dann lief sie zu Jake zurück, nahm ihn an der Hand und ging mit ihm auf den hundert Metern Niemandslandasphalt zu der stattlicheren, großzügiger verglasten Station an der thailändischen Grenze.
»Sawadee kap!« , sagte der thailändische Grenzposten. Er blickte auf ihre Pässe hinab. Sein Lächeln war kurz, aber vielsagend. »Dreißig-Tage-Visa?«
»Ja«, sagte Jake, »Dreißig-Tage-Visa.« Er ergriff Chemdas Hand. »Kappunkap.«
Das Taxi, das Jake für die Fahrt nach Surin besorgte, war ein ramponierter Toyota Corolla mit einem fetten Mann aus der Region Isaan am Steuer und dreizehn vom Rückspiegel baumelnden mönchischen Amuletten. Wie Chemda blickte auch Jake die ganze Zeit unverwandt nach vorn, als sie an den endlosen Zuckerrohrfeldern auf beiden Seiten der Straße vorbeirauschten. Ihre gute Laune, ihr fassungsloses Staunen über ihr spätes Glück war bereits im Schwinden begriffen; endgültig verflogen war es, als sie am Bahnhof ankamen, wo sie den Nachtzug nach Bangkok nehmen wollten. Nach Bangkok und zu Marcel Barnier.
Jake holte seine kleine Kamera heraus. Er hatte die neue Kamera mit den kostbaren neuen Fotos immer noch. Er hatte das Foto seiner Schwester verloren, aber jetzt hatte er neue Fotos. Die Ahnung neuer Möglichkeiten hob seine Stimmung. Schreib einen Artikel. Halte die Vergangenheit fest. Setz dich gegen die Welt durch, nur dieses eine Mal. Sei ein richtiger Fotograf. Ja, das konnte er immer noch schaffen.
Im Bahnhof kaufte Jake an einem Zeitungsstand eine Ausgabe der Bangkok Post . Umgeben von Mangas lesenden thailändischen Arbeitern, begann er halb neugierig, halb besorgt in der Zeitung zu blättern, während Chemda die Fahrkarten kaufte.
Aber er sollte nicht lange blättern.
In der Post war ein Artikel über ihn und Chemda. UN-Mitarbeiterin in Phnom Penh vermisst … Enkelin des bekannten chinesischstämmigen kambodschanischen Geschäftsmanns Sovirom Sen … Fotojournalist in ihr Verschwinden verwickelt …
Die kurze Meldung befand sich an wenig prominenter Stelle und war neutral im Ton. Jake wurde darin nichts angelastet. Erwähnt wurde allerdings die Belohnung für Chemdas Auffindung, und allein die Tatsache, dass der Artikel in Thailands wichtigster englischsprachiger Zeitung erschien, ließ Jakes Befürchtungen wieder aufflackern. Wer könnte versuchen, sich diese Belohnung zu verdienen? Und vor allem wie?
Die Nachmittagsstunden bis zur Abfahrt des Nachtzugs verstrichen quälend langsam. Jake trank in Flaschen abgefülltes Wasser und Dosen mit kaltem japanischem Kaffee und versuchte, so wenig wie möglich aufzufallen, als er neben Chemda nervös auf einer Bank des Wartesaals saß. Er rief Tyrone an.
Sein amerikanischer Freund sagte nur, er solle endlich die Klappe halten und aufhören, so blöd »rumzuschleimen«, als Jake ihm umständlich zu sagen versuchte: Danke, dass du mir das Leben gerettet hast. Dann hörte sich Tyrone die abenteuerliche Geschichte ihrer Flucht aus Siem Reap an und fluchte immer wieder gehörig. Aber gelegentlich lachte er auch und half Jake mit seiner humorvollen Art, die schrecklichen Erlebnisse der letzten Tage wenigstens für Momente zu vergessen.
»Ihr fahrt also jetzt nach Bangkok?«, fragte Tyrone schließlich.
»Ja.«
»Und ihr wollt dort diesen Barnier aufsuchen? Ihr gebt
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