Bibel der Toten
paar Meter weiter schrien die Dorfbewohner auf die Soldaten ein, die in betretenem Schweigen dastanden. Einer der Einheimischen ging auf den Anführer des Trupps zu und nahm ihm einfach die Maschinenpistole aus den kraftlosen Händen.
Der junge Khmer-Soldat blinzelte heftig, vor Ärger oder Schreck – oder feiger Erleichterung. Jedenfalls rührte er sich nicht. Stand nur stocksteif da. Jake merkte, dass jetzt wahrscheinlich die Soldaten um ihr Leben fürchteten. Sie befanden sich deutlich in der Unterzahl und waren von einem ganzen Dorf bei einer brutalen Hinrichtung im Stil der Roten Khmer ertappt worden, und das in einer Region, deren Menschen für ihren Hass auf die Roten Khmer bekannt waren. Die Soldaten wussten, sie konnten jeden Moment gelyncht werden.
»Wir dürfen nicht zulassen, dass ihnen die Dorfbewohner etwas antun«, sagte Jake zu Chemda. »Sie dürfen die Soldaten nicht umbringen.«
Die Verachtung in Chemdas Miene war unübersehbar, aber sie nickte. »Du hast recht, ja. Sie verdienen es zwar nicht, am Leben zu bleiben, aber du hast völlig recht. Wir sollten jedes Aufsehen vermeiden.«
»Und wir sitzen nach wie vor hier fest, Chem. Wir können jetzt unmöglich durch die Schlucht nach Thailand fliehen, wie geplant. Das geht jetzt nicht mehr; sicher sind hier noch jede Menge Soldaten unterwegs …«
Chemda zuckte unwirsch mit den Achseln. »Dann müssen wir es wohl am offiziellen Grenzübergang nach Thailand versuchen.«
»Wie stellst du dir das vor? Sie werden uns sofort festnehmen und nach Phnom Penh zurückschicken.«
Chemda dachte nach. Jake schaute zu ihren Rettern. Im selben Moment begann in seinem Kopf eine Idee Gestalt anzunehmen.
»Was hältst du davon? Wir könnten doch diese Leute hier … um Hilfe bitten. Dass sie uns begleiten. Wenn sie mitkommen, haben wir vielleicht eine Chance.«
Chemda nahm sich nicht einmal die Zeit, um ihm zu antworten. Sie drehte sich um und begann mit den Dorfbewohnern zu sprechen. Die Einheimischen nickten und schrien, aufgeregt und voller Eifer, und über Chemdas Züge legte sich sogar schon wieder ein leises Lächeln.
»Sie wollen uns helfen.«
Wie auf ein stummes Kommando setzte sich die Menge in Bewegung. Jakes Plan schien aufzugehen. Sie begleiteten sie an die Grenze. Nur ein paar der Dorfbewohner blieben zurück, um die entwaffneten Soldaten zu bewachen. Aber der Rest marschierte zielstrebig die glühend heiße Straße zur thailändischen Grenze hinauf, die nur wenige hundert Meter entfernt war.
Als sich die Menge der Grenzstation näherte, sah Jake einen Ausdruck besorgter Verwunderung in den Gesichtern der in einem Glashäuschen sitzenden kambodschanischen Zollbeamten. Die Männer hatten sicher Anweisung erhalten, nach flüchtigen Personen, auf die Chemdas und Jakes Beschreibung zutraf, Ausschau zu halten und sie auf der Stelle festzunehmen, wenn sie die Grenze nach Thailand zu überschreiten versuchten. Ganz sicher hatten sie aber nicht damit gerechnet, dass Jake und Chemda von einer kompletten Dorfgemeinschaft begleitet würden.
Was konnten fünf Grenzbeamte gegen eine aufgebrachte meute von etwa hundert mit Messern, Gewehren und rostigen Macheten bewaffneten Menschen ausrichten?
Die Menge verfiel in ungewohnt unterwürfiges Schweigen, als sie den weißen Schlagbaum erreichte, der die kambodschanische Grenze markierte. Ein paar hundert Meter weiter sah Jake die blauen und roten Streifen der Thai-Flagge schlapp von einer Fahnenstange hängen; hinter den großen Fenstern des Stationsgebäudes waren mehrere Thai-Gesichter zu erkennen, die das seltsame Schauspiel, das sich auf der Khmer-Seite der Grenze anbahnte, gespannt verfolgten. Hinter den Thai-Beamten hing das gütig lächelnde Porträt des bebrillten Königs Bhumibol von Siam an der Wand.
Jake wischte sich den Schweiß aus den Augen und versuchte ihre Chancen abzuschätzen. Er wusste, sie hätten kein Problem, nach Thailand einzureisen. Ihre Pässe waren in Ordnung. Britische und amerikanische Staatsbürger konnten jederzeit nach Thailand einreisen und ein Visum bekommen.
Aber vorher müssten er und Chemda es noch über die kambodschanische Grenze schaffen.
Die Khmer-Grenzbeamten waren in ihrem Häuschen bereits hektisch am Telefonieren. Zwei von ihnen hatten ihre Pistolen gezogen und legten sie jetzt mit vielsagender Unverfrorenheit auf den Schalter vor ihnen. Aber die immer noch ominös stille Menge rückte unaufhaltsam weiter vor und umzingelte das Häuschen. Allein ihre Masse drohte
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