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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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unversehrt – weiter als bis zu ihren Armen und Oberschenkeln war der Orang-Utan nicht gekommen. Aber an ihrem Selbstbewusstsein hatte er sehr wohl gekratzt. Dieses Erlebnis würde sie sicher niemals vergessen, das elektrische Prickeln des Viehstocks, das Gewicht des alten Menschenaffen auf ihr, seine hemmungslos grapschenden Hände.
    Sie richtete sich mühsam auf. Klopfte sich den Schmutz von ihrem Oberteil und dem langen Rock. Strich immer wieder über den Stoff. Sehnte sich nach einer Dusche, um den heißen Moschusgeruch des Affenfells von sich – und von ihren Kleidern – abzuwaschen. Nein, die Kleider würde sie verbrennen. Genau so, wie sie auch nach Sarnia ihre Sachen verbrannt hatte.
    Der Institutsleiter schaute weinend zu ihr – er weinte wie ein kleines Kind, wie eine Spielzeugpuppe mit eingebauter Weinfunktion.
    »Ich weiß nicht, was ich sagen soll … es tut mir so furchtbar leid, Miss Kerrigan.« Seine Scham war offensichtlich. Sogar seines bisher so tadellosen Englisch war er auf einmal nicht mehr mächtig. »Miss, sorry, ochen’ zhal, etogo nikogda ne sluchalos ran’sche! Ich sorry. Wy dolzhny byt gormonal’nye. Opyat’ ja proschu proschchenija …«
    »Das hilft mir jetzt auch nichts mehr«, stieß Julia aufgebracht hervor. »Sie Idiot. Sie blöder …«
    Ihre Beschimpfungen verstummten rasch. Wozu sollten sie gut sein? Julia hatte genug gesehen und getan. Der Orang-Utan kauerte, die langen Arme um sein Gesicht geschlungen, in der hintersten Ecke des Käfigs. Seine Augen waren groß und traurig und leer.
    Sie musste weg von hier, sofort. Sie hatte alles, was sie vom Institut für Primatenpathologie in Sochumi brauchte. Alle Informationen, die es hier für sie zu holen gab; vielleicht sogar ein paar wichtige Anhaltspunkte.
    Jetzt musste sie als Erstes dringend baden.
    Sie ging zum Tor und dann weiter den Hügel hinauf, bis zu seinem höchsten Punkt. Sie blickte sich in den trostlosen Straßen Sochumis um und hielt zwischen den schlappen Palmen nach einem ganz bestimmten Schriftzug Ausschau. Sie suchte etwas, auf dem Hotel stand.
    Ausnahmsweise hatte sie Glück. Hotel Ritsa. Das Leuchtschild flackerte im Nieselregen. Es lag etwa fünfhundert Meter den Hügel hinunter, an den geometrischen Straßenbahngleisen, nicht weit vom Meer.
    Ihren störrischen Trolley hinter sich herziehend, rannte Julia den Hügel hinunter. Das Foyer des Hotels war staubig und heruntergekommen. Die Benutzung des Aufzugs war vermutlich nicht ungefährlich. Die Laken in ihrem Zimmer waren aus purem Polyester. Der Duschkopf rülpste lauwarmes Wasser. Es fühlte sich dennoch paradiesisch an.
    Sie duschte lang und ausgiebig, dann schlüpfte sie ins Bett und trank – aus dem Zahnbecher – ihre zollfreie Flasche georgischen Wein und schlief lange im Nirwana kratzenden Nylons. Nach dem Aufstehen fuhr sie zu einem Hotelfrühstück aus grell rosafarbenen Schinkenscheiben und eingelegten Eiern ins Erdgeschoss hinunter.
    Wieder zurück auf ihrem Zimmer, duschte sie noch einmal: zur letzten Läuterung. Aber als sie diesmal aus der Dusche stieg, um ihr Haar zu trocknen, blieb sie vor dem Spiegel stehen und betrachtete sich darin: entsetzt – und fasziniert.
    Ihre blassen Arme und Beine waren übersät von blauen Flecken, viele in Form der Handabdrücke des Orang-Utans. Die Blutergüsse zeigten an, wo sie der große Menschenaffe gepackt und festgehalten hatte. Beim Betrachten der dunkelvioletten Flecken erfasste sie ein seltsamer Schauder. Ein Schauder, der begleitet wurde vom langsamen Entstehen einer Idee. Die Finger waren deutlich zu erkennen: die Finger des großen Primaten, schuldlos, brutal, andersartig, unverzagt. Schuldlos wie die Jungen, die in Sarnia über sie hergefallen waren.
    Und dann musste sie an die Hände von Gargas denken, an ihre schmerzliche Schuldbewusstheit, an die Reue, die sie zum Ausdruck brachten. Menschenhände, so ungeheuer alt. Und voller Schuldbewusstsein.
    Julia lächelte in sich hinein.
    Ja? Vielleicht. Vielleicht hatte sie ihn. Den Schlüssel. Den Code. Den Ansatzpunkt für eine grandiose Lösung.
    Doch. Das musste es sein.
    Aufgeregt, mit frischer Energie, setzte sie sich an ihren Laptop. Und machte sich an die Arbeit, die einzelnen Teile zusammenzusetzen. Die Höhlenkunst. Die Trepanationen. Schuldbewusstsein und Gewissen. Die schuldlose Animalität des Orang-Utans. Die schuldlose Raserei der zu Tieren gewordenen Männer in dem VW-Bus.
    Ja! Der Gedanke hatte etwas. Auf jeden Fall. Sie würde sich

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