Bibel der Toten
Profil ihres dunklen Gesichts anzusehen.
Ihr stummer laotischer Fahrer wich schlingernd einem Wasserbüffel aus, der kampflustig am Straßenrand stand. Jake hielt sich am Türgriff des schaukelnden Pick-up fest. Sie passierten ein stehendes Auto, auf dessen Dach ein Soldat schlief.
Jake schaute zu Chemda hinüber. Er wollte ihr näherkommen, dieser einschüchternden Frau mit ihrem ernsten Liebreiz und ihrer Schönheit, die jetzt allerdings nichts zur Sache tat. Er war hier, um etwas zu bewirken, er wollte sich als ernst zu nehmender Fotojournalist beweisen und wie sie sinnvolle Arbeit leisten. Dafür brauchte er jedoch ihre Freundschaft – und ihre Vorbehaltlosigkeit. Und dafür müsste sie sich ihm öffnen.
Er fragte sie nach ihrer Vergangenheit. Ihre Antworten waren höflich, aber knapp. In den Wirren nach dem Sturz des Terrorregimes der Roten Khmer geboren, war sie in den achtziger Jahren nach der Annektierung Kambodschas durch die Vietnamesen mit ihren Eltern in die USA geflohen. Dort hatte sie an der UCLA studiert, war aber wie viele ihrer nahen Verwandten nach Kambodscha zurückgekehrt, um beim Wiederaufbau des Landes zu helfen, alles wieder neu zu starten und hochzufahren sozusagen.
Jake wollte sie eigentlich fragen, ob ihre ganze Familie unbeschadet davongekommen war, ob sie die Schreckensherrschaft der Roten Khmer überlebt hatte. Aber er wagte nicht, dieses prekäre Thema anzuschneiden. Aus trauriger Erfahrung wusste er, dass man, stellte man einem Kambodschaner diese Frage, häufig in beiläufigstem Ton zutiefst schockierende Antworten erhielt. »O nein, meine Mutter und mein Vater leben nicht mehr, und meine Schwester wurde auch ermordet. Alle sind tot.« Noch schlimmer war die Antwort: »Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich habe niemanden mehr.«
Deshalb hatte Jake nach seinem ersten Jahr in Phnom Penh aufgehört, Kambodschanern diese Frage zu stellen. Man musste sich nur in der Stadt umsehen. Es gab kaum alte Menschen. Alle, die jetzt alt gewesen wären, waren ermordet worden.
Ob das auch auf Chemdas weitere Verwandtschaft zutraf, wusste er nicht. Doch wie es schien, würde sie es ihm nicht erzählen. Er hatte das Gefühl, dass es da irgendetwas gab – etwas Schlimmes. Andererseits gab es in der Vergangenheit jedes Kambodschaners etwas Schlimmes und Tragisches, etwas, über das er lieber nicht redete.
Der Fahrer machte die Scheinwerfer an. Die Augen eines kleinen wilden Tiers reflektierten kurz ihr Licht, bevor es von der Straße huschte. Inzwischen war es eisig kalt geworden; über die Berge hatte sich frostige Dunkelheit gebreitet. Jake schloss wegen der klammen Kälte das Fenster und sagte:
»Das ist sie doch, oder? Die Ebene der Tonkrüge.«
Sie hatten den höchsten Punkt der Strecke erreicht. Das erschöpfte Auto bog um eine letzte Kurve, dahinter führte die Straße auf ein weites Plateau hinab. Nach sechzehn zermürbenden Stunden Fahrt waren sie endlich am Ziel.
Der Anblick, der sich ihnen bot, hatte etwas Bedrückendes. In den über die mondbeschienene Hochebene verstreuten Dörfern schien es keine Elektrizität zu geben. Nirgendwo brannte Licht. Und offensichtlich gab es in den primitiven Behausungen auch keine Heizung und kein fließendes Wasser, denn die Menschen wuschen sich in Abflussgräben oder an Gemeinschaftspumpen. Vor vielen der einfachen Holzhütten brannten kleine Feuer, die vermutlich zum Kochen dienten und Wärme spenden sollten. Hatten die menschen hier nicht einmal Schornsteine?
Die schaurige Szenerie erinnerte an eine mittelalterliche Höllendarstellung. Die flache, dunkle Hochebene war übersät von Tausenden in der nebligen Kälte flackernder Feuer. Und an den Wasserpumpen kauerten alte Frauen, deren ausgezehrte halbnackte Körper im Schein der grellroten Flammen noch gespenstischer wirkten.
»Noch fünfzig Kilometer«, sagte Chemda. »Dann sind wir in Phonsavan. Da ist unser Quartier.«
Das Ende ihrer langen Fahrt rückte näher. Jake fasste sich ein Herz; er musste mehr über die Hintergründe ihres Vorhabens wissen.
»Wer übt Druck auf die kambodschanische Regierung aus? Wer drängt sie, die Vergangenheit aufzuarbeiten?«
»Die kambodschanische Bevölkerung. Die Vereinten nationen. Viele westliche Regierungen.«
»Nicht alle westlichen Regierungen?«
»Die Amerikaner haben die Roten Khmer in den siebziger Jahren zunächst unterstützt. Deshalb sind sie in diesem Punkt etwas gespalten.«
»Aha.«
In Chemdas verhaltenem Lächeln schwang ein
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