Biest: Thriller (German Edition)
mittlerweile wusste, dass er ein Retortenkind der Neunzigerjahre war. Ehemals ein geschäftiger Hafen, dessen Importe hauptsächlich von den Kanaren gekommen waren, daher der Name. Und heute eine der reichsten Gegenden der Stadt, in der nach und nach die höchsten Gebäude Londons entstanden. Hauptsächlich Banken und Versicherungen hatten hier ihre Hauptsitze oder zumindest ihre Dependancen im Königreich eingerichtet. Das Viertel boomte, und die Preise für die großen Wohnungen in den Wolkenkratzern waren trotz der Immobilienkrise astronomisch. Sherwood parkte vor einem offenbar geschlossenen Lokal.
»War mal ein guter Pub. Hat vor einem Monat geschlossen, hier geht keiner mehr in einen einfachen Pub«, nuschelte Wayne, als er die Autotür mit einem lauten Rumms ins Schloss fallen ließ. »Und wenn die da«, er deutete auf zwei große, halb fertige Türme mit riesigen Telefonnummern von Maklern an der Seite, »erst fertig sind, gibt’s hier bald nur noch blasierte Deppen.«
Mittlerweile fand Solveigh Sherwood sogar irgendwie sympathisch. Er wirkte auf den ersten Blick wie ein frustrierter Zirkusbär, aber er kannte sich hier wirklich aus, und vermutlich konnte er auch ganz anders, wenn man ihn reizte. Solveigh hatte nicht vor, es auszuprobieren, als sie sich auf den Weg ins Herz der Wharf machten, ein riesiges Areal von Shoppingmalls, Büros, Restaurants und Luxusapartments. Solveigh hatte keine Ahnung, wie sie das Biest hier jemals finden sollten.
»Zeigen Sie mir noch mal das Foto, das Sie von der Überwachungskamera haben.«
Solveigh reichte ihm ihr Telefon.
»Das ist am Cabot Square, gleich hier die Straße runter.« Er gab ihr das Telefon zurück und schlug einen schnellen Schritt an. Sie rannten beinahe durch mehrere Einkaufszentren, deren Glasdächer so hoch wie die Geschäfte exklusiv waren. Der richtige Konsum am richtigen Ort, vermerkte Solveigh. Bankangestellte und Berater, ein bisschen Kunstszene, noch weniger normales Leben. Dafür gab es auf dem Cabot Square einen Springbrunnen.
Sherwood deutete auf einen Mast mit Kameras: »Sehen Sie, hier wurde die Aufnahme gemacht«, verkündete er triumphierend.
»Natürlich«, sagte Solveigh. Als ob sie nicht selbst hätte rausfinden können, welche Kamera die Aufnahme gemacht hat.
»Die Frage ist, wie wir jetzt weitermachen. Ich würde vorschlagen, wir besorgen uns die Bänder von allen umliegenden Liegenschaftsverwaltern. Irgendwo muss er ja noch einmal in eine Kamera gelaufen sein. Bei den ganzen Banken hier gibt es doch sicher eine Überwachung wie vor Fort Knox, oder nicht?«
»Ist natürlich eine Möglichkeit«, murmelte Sherwood und strich sich über die immer noch unnatürlich roten Lippen. »Andererseits …«
Solveigh horchte auf: »Na, da bin ich aber gespannt.«
»Andererseits könnten wir auch einfach mal ein Eis essen gehen zum Beispiel. Kommen Sie mit, ich lade Sie ein!«
Solveigh wollte protestieren, aber Wayne war schon weitergestürmt. Mittlerweile war die Sonne untergegangen, und die Lichter der hohen Bürotürme funkelten um die Wette. Der beleuchtete Springbrunnen auf dem Platz, die Menschen, die trotz der Kälte noch um kurz vor acht zwischen den Malls unterwegs waren. Obwohl sie niemals ihre beschauliche Amsterdamer Wohnung, in der sie das Fahrradklingeln an der Gracht hörte und die sie auf einmal schrecklich vermisste, dagegen eintauschen würde, konnte sie verstehen, warum dieser Ort auf die Menschen eine gewisse Faszination ausübte. Altes und Neues, Bequemlichkeit und Luxus. Und Wayne Sherwood, der tatsächlich eine Dose Eiscreme aufgetrieben hatte, mitten im Winter. Es war eine amerikanische Sorte, die besonders viel Schokolade versprach. Er drückte ihr einen Löffel in die Hand und hielt ihr die kleine Dose hin. Noch bevor sie überhaupt das Werkzeug in der Hand hatte, stopfte sich Wayne einen ersten großen Löffel in den Mund und grinste.
»Die beste Eiscreme der Welt.«
Solveigh probierte und musste zugeben, dass es wirklich mindestens doppelt so viel Schokolade beinhaltete, wie für ihren Geschmack notwendig gewesen wäre. Er grinste: »Ohne Eiscreme kann ich nicht denken. Ihr Phantom allerdings schon. Ich kenne wenige, die es schaffen, Pete nicht aufzufallen.«
»Wer ist Pete?«, fragte Solveigh.
»Pete ist der Typ, der bei Starbucks die Tassen wegräumt. Er kennt fast jeden hier vom Sehen. Auch die ganz Reichen.«
Solveigh ahnte, warum Wayne von ihrem Vorschlag, die Aufzeichnungen der Kameras zu besorgen,
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