Big Sky Country - Das weite Land (German Edition)
machte Joslyn die Hintertür auf und atmete die frische Morgenluft ein. Die Sonne schien, der Himmel war blau, und der Anblick der Blumen war eine reine Freude. Joslyn nahm sich Zeit, die ganze Farbenpracht auf sich wirken zu lassen – all das Blau und Rot, das viele Gelb, Gold, Rosa und Violett.
Bis auf die chinesischen Lampions, die feucht von den Zweigen der Ahornbäume hingen, und der dunklen Stelle im Gras, wo der Tanzboden aufgebaut gewesen war, erinnerte nichts mehr an die Grillparty.
Lucy-Maude hatte fertig gefressen, setzte sich ins warme Sonnenlicht auf der Türschwelle und begann sich zu putzen.
Es gibt Augenblicke, dachte Joslyn, die einfach vollkommen sind.
Als der Kaffee fertig war, nahm sie sich eine Tasse, ging in ihrer Baumwoll-Pyjamahose und dem langen T-Shirt hinaus in den Garten und ließ sich auf einen Gartenstuhl sinken.
Die Schiebetür auf Kendras Glasveranda öffnete sich einen Spalt, und Kendra kam heraus. Sie hatte abgeschnittene Jeans und ein Top, aber keine Schuhe an. Mit ihrem Pferdeschwanz sah sie aus wie ungefähr vierzehn.
„Gibt es noch Kaffee?“, rief sie.
„Bedien dich“, antwortete Joslyn lächelnd.
Kendra, die etwas bleich im Gesicht war, tapste an Joslyn vorbeiin die Küche des Gästehauses und kam mit einer dampfenden Tasse Kaffee wieder heraus. Joslyn hatte inzwischen einen zweiten Gartenstuhl geholt, in den sich Kendra nun hineinfallen ließ. Ihre Zehennägel waren in hellem Korallenrot lackiert. „Ich habe gestern zu viel Wein getrunken“, gestand sie.
Joslyn grinste. „Hast du deshalb mit Hutch Carmody getanzt?“
„Wahrscheinlich“, antwortete Kendra zerknirscht. Um ihren Mund zuckte jedoch ein Lächeln. „Was ist deine Entschuldigung?“
„Dafür, dass ich mit Hutch getanzt habe?“ „Dafür, dass du mit Slade getanzt hast.“
„Ich habe eine unglaublich hohe Schmerzgrenze“, antwortete Joslyn fröhlich. „Er hat irgendetwas an sich …“
„Eine unwiderstehliche sexuelle Anziehung vielleicht?“, neckte Kendra. Das Koffein zeigte offenbar seine Wirkung.
„Du hast sie also bemerkt?“, scherzte Joslyn.
„Es ist schwer, sie nicht zu bemerken. Ich glaube, Gott wollte ein bisschen angeben, als er Slade Barlow geschaffen hat.“
„Amen.“ Joslyn nickte.
Kendra kicherte. „Und dann ist da noch Hutch …“ Joslyn wartete.
Kendra starrte eine Weile ins Leere. „Wir sind eine Zeit lang miteinander ausgegangen“, sagte sie leise. „Also, Hutch und ich.“
„Das hast du mir nie erzählt.“ Joslyns Ton war fast vorwurfsvoll. Sie hatte natürlich gewusst, dass Kendra – wie sie selbst ja auch – manche Dinge für sich behielt. Aber das? „Was ist passiert?“
„Ich habe meinen Mann kennengelernt“, antwortete Kendra nach langem Schweigen. „Jeffrey.“
„Oh. Liebe auf den ersten Blick?“
„Wohl kaum.“ Kendra vermied es, Joslyn anzusehen. „Hutch und ich hatten einen Streit wegen irgendeiner albernen Kleinigkeit – ich kann mich nicht einmal mehr genau erinnern, was es war – und haben Schluss gemacht. Eigentlich war ich davonüberzeugt, wir würden uns wieder versöhnen. Ich hatte ja keine Ahnung, wie starrköpfig und stolz Hutch sein kann. Dann ging alles durcheinander, und ehe ich mich’s versah, war ich plötzlich verheiratet. Dabei hatte ich bis zum „Ja, ich will“ gehofft, dass Hutch hereinstürmen und die Hochzeit verhindern würde.“ Kendra atmete zitternd aus. „Was er ja nun offensichtlich nicht getan hat.“
„Aber neulich hast du doch gesagt, dass …“
„Dass ich meinem Ehemann die Schuld gebe, dass ich mein Vertrauen in die Liebe verloren habe“, unterbrach Kendra sie leise. „Ich wollte, dass du das glaubst. Ich wollte es selbst glauben. Doch die Wahrheit ist, dass nicht Jeffrey mir das Herz gebrochen hat, sondern ich selbst. Mit ein wenig Hilfe von Hutch.“
Joslyn brauchte einen Moment, um das zu verdauen. Schließlich nickte sie seufzend. Die Menschen taten verrückte Dinge, wenn sie verliebt waren.
9. KAPITEL
D er Sonntag war ein Arbeitstag für Slade. Er kam frühmorgens in sein Büro, löste den Deputy ab, der in der Nacht Dienst gehabt hatte, und kochte sich eine Kanne starken Kaffee. Es war ein ruhiger Morgen. Die Gefängniszellen waren leer bis auf eine Zelle, in der Lyle Hoskins schlief. Er war der stadtbekannte Obdachlose, der für die Nacht einen Platz zum Schlafen gebraucht hatte und nun mit der Penetranz einer stumpfen Kreissäge vor sich hin schnarchte. Wenn Lyle aufwachte,
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