Big Sky Country - Das weite Land (German Edition)
„Sie können mich jetzt rauslassen, Sheriff“, rief er freundlich. „Sobald ich geduscht habe, bin ich startklar.“
Slade lächelte über die absurde Normalität dieser Situation, schob seinen Stuhl zurück und nahm die Zellenschlüssel aus der Schreibtischschublade.
Lyle hatte überall graue Stoppeln – angefangen von den millimeterkurzen, schütteren Haaren auf seinem Kopf bis zu seinem Bart. Vermutlich war er Mitte sechzig, doch wie alt er genau war, ließ sich schwer sagen. Slade konnte sich nicht erinnern, dass Lyle jemals anders ausgesehen hatte als jetzt. Auf jeden Fall schien er es für seine moralische Pflicht zu halten, der verschrobenste Bürger von ganz Parable zu sein. Lyle trank nicht, abermanchmal vergaß er, seine Medikamente zu nehmen. Und wenn das der Fall war, konnte alles Mögliche passieren.
Er kam dann beispielsweise auf die Idee, alle seine Klamotten auszuziehen und wie ein Seiltänzer auf der weißen Linie auf dem Highway zu balancieren. Oder er beschloss, im Stadtpark zu leben wie ein Obdachloser.
Als er einmal mehrere Tage verschwunden war – was bei Lyle öfter vorkam –, hatten Slade und Boone Taylor ganz Montana nach ihm abgesucht. Gefunden hatten sie ihn schließlich unmittelbar hinter der Stadtgrenze von Parable, wo er sich in einem Kanalschacht versteckt hatte. Lyle war sich absolut sicher gewesen, dass zwischen Montana und Idaho der Bürgerkrieg ausgebrochen und jeden Moment mit einem Bombenangriff zu rechnen war.
„Kartoffelbomber“, hatte Boone damals grinsend gesagt. „Das sind die Schlimmsten.“
Sie hatten Lyle auf der Ladefläche von Slades Pick-up in eine psychiatrische Klinik nach Great Falls gebracht. Sobald er medikamentös wieder gut eingestellt gewesen war, hatte man ihn entlassen, und Lyle war mit dem ersten Bus nach Hause gefahren.
„Hunger?“ Slade sperrte die Zellentür auf. Die Duschen für die Häftlinge befanden sich gleich am Ende des Korridors. Schließlich hatten sie hier keinen Hochsicherheitstrakt …
Lyle huschte an ihm vorbei und hob die Papiertüte vom Boden auf, die er üblicherweise bei sich trug, wenn er dem Gefängnis einen Besuch abstattete. Slade wusste aus Erfahrung, dass sich in dieser Tüte saubere Kleidung, ein Handtuch, Zahncreme und eine Zahnbürste befanden. „Hunger? Ja, aber nur, wenn Sie mir einen von diesen Essenscoupons geben, die Sie anscheinend immer griffbereit haben“, antwortete Lyle. „Ich habe mein letztes Geld für einen Haarwuchs-Helm mit Leuchtdioden verbraucht, den ich im Fernsehen gesehen habe. Und drüben im ‚Butter Biscuit‘ geben sie mir schon seit Monaten nichts mehr auf Kredit. Himmel, Essie würde nicht einmal mehr ein Stück Kuchen rausrücken.“
Slade zwang sich zu einem Lächeln. „Selbstverständlich bekommenSie Ihren Essenscoupon. Und jetzt ab unter die Dusche, und wenn Sie fertig sind, gebe ich Ihnen den Gutschein.“
Lyle drückte seine Papiertüte an sich und befolgte die Anweisung.
Als er nach zehn Minuten – gründlich abgeschrubbt – zurückkam, schimmerte seine Haut rosa. Sein Blick suchte den versprochenen Gutschein.
Lyle wusste ein Gratisessen ungemein zu schätzen, da ihn seine wohlhabende Schwester finanziell äußerst kurzhielt. Eine volle Haarpracht war ihm aus unerklärlichen Gründen aber offenbar ebenso wichtig.
Lyle rieb sich die kleinen, dicken Hände. Offenbar freute er sich schon auf seine Mahlzeit, die üblicherweise aus Speck, Eiern und Keksen bestand. Er hatte einen Overall, ein Paar alte Knöchelturnschuhe mit abgerissenen Schnürsenkeln und ein Flanellhemd, das sogar für den Altkleidersack zu schäbig gewesen wäre, an. „Her mit dem Gutschein, Sheriff“, sagte er. „Ich bin am Verhungern.“
Stirnrunzelnd betrachtete Slade die grauen Haarstoppeln auf Lyles Kopf, während er ihm den Gutschein hinhielt.
„Hat es funktionier?“, erkundigte er sich schließlich.
„Hat was funktioniert?“ Lyle schnappte sich den Gutschein.
„Das Haarwuchs-Ding, das Sie erwähnt haben.“ Slade hatte Mühe, ernst zu bleiben.
Lyle fuhr sich verlegen mit einer Hand über seinen fast kahlen Kopf. „Es ist noch nicht angekommen“, erklärte er betrübt. „Der Postweg dauert fünf bis sechs Wochen, wenn man nicht extra für den Express-Versand bezahlt.“
Zum Entsetzen seiner leidgeprüften Schwester Myra liebte Lyle es, Verkaufsmarathons auf den Shopping-Kanälen und Dauerwerbesendungen im Fernsehen zu gucken. Myra hatte nie geheiratet und gab der Verrücktheit
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