Bilder Aus Dem Berliner Leben
herauf kommt der Mond; und da mag man nun sagen, was man will: So lang es noch frohe Menschen gibt, ist gut sein auf der Welt. Wir können an ihrem Laufe nichts ändern, und das Bild eines mäßigen bürgerlichen Glücks ist mir das liebste von allen Bildern aus dem Berliner Leben.
In den Zelten
(August 1882)
Immer wenn ich an einem dieser schönen Sommervormittage vom Fenster meines Arbeitsstübleins aus über dem dunklen Grün des Tiergartens, der wie ein Forst zu meinen Füßen liegt, weit weg im Nordosten und dem Blau des Morgenhimmels die Victoria der Siegessäule leuchten sehe: dann trete ich frohen Mutes an meinen Schreibtisch, reibe mir vergnügt die Hände und spreche zu mir selber: »Wir werden heut einen guten, warmen Tag haben, und heut abend ... aber ich sage nichts, ich sage nichts!«
Und wenn es nun endlich Abend geworden – denn ach! so ein heißer Sommertag ist lang in Berlin –, wenn die Rouleaus und Gardinen und Jalousien und wie die Dinge alle heißen, durch die man sich in dieser Stadt gegen die Glut des Mittags verwahrt, wenn sie, sag ich, in die Höhe gezogen, gerollt und gewickelt sind und durch das geöffnete Fenster zuerst wieder ein kühler Hauch von draußen heraufweht: dann mach ich mich so unfehlbar auf den Weg, als dort über dem schrägen Dach des Nachbarhauses die Sonne niedergeht. Dann nehm ich meinen Flurschlüssel und meinen Hausschlüssel, meine Zigarren, meinen Hut und meinen Stock und – wenn es sich für einen Mann in meinen Jahren schickte, wahrhaftig, ich würde, während ich die Treppen hinabsteige, singen – irgendein schönes Volks- und Wanderlied. Sowohl ist mir jedesmal, wenn ich meine Bücher in den Schrank stellen und meine Schreiberei liegenlassen kann, wenn ich, vor der Tür meines Hauses stehend, mir die Frage vorlege: »Wohin nun, mein Freund? Ganz Berlin gehört dir; entscheide, triff deine Wahl!«
Gott sei Dank! – ich bin nicht der heilige Antonius, und niemand, weder der Teufel noch auch ein Engel, will mich in Versuchung führen. Ich bin ein Mann in gesetztem Alter, von bescheidenen Ansprüchen; von zufriedener Gemütsart und konservativer Gesinnung, soweit es sich nämlich um die Spaziergänge handelt; ein wenig träumerisch, hier und da stehenbleibend, wenn ein hübsches Paar vorübergeht oder ein Eichhörnchen über den Pfad schlüpft, ein wenig nachdenklich und manchmal sentimental; sonst aber ohne Harm, und meine Vergnügungen sind von der unschuldigen Art.
Ich schlage gleich den Fußweg mir gegenüber ein, er führt mich mitten in den Tiergarten hinein, und ich verschwinde hinter seinem Gebüsch wie hinter einer Kulisse. Diesen Weg geht niemand; hier bin ich allein. Die andern lieben die Sonne, die Helligkeit, die breite Straße, den Lärm der Promenade, den Luxus der Toiletten, Equipagen, Pferde, Reiter und Reiterinnen; ich liebe den Schatten, die Dämmerung, den schmalen Heckenweg, die Stille, die Einsamkeit, ich kenne jeglichen Baum in dieser Gegend, und ich meine, daß er auch mich kennen müsse, so vielmals in den vielen Jahren haben wir einander schon gesehen, Winter und Sommer, bei gutem Wetter und bei schlechtem. Ich war noch ein Student, da ging ich hier schon, und Freunde gingen mit mir, die jetzt – Gott weiß wo in der Welt sind. Hier, am Goldfischteich, wie manchmal haben wir gesessen und die liebreizende Göttin angeschaut, die der Liebe, mit dem wehmütigen Zug im Antlitz, der es noch holder macht; mit jenem schmerzlichen Lächeln um die »schöngereimten« Lippen, als wolle auch sie fragen: »Und nachher?« Sie steht noch immer da, die holde Schwester der Medicäerin, und lächelt noch immer wie vor zwanzig und dreißig Jahren – Eis und Schnee, Regen und Sonne, Frost und Blüten sind über ihrem zierlichen Haupte dahingezogen. Die Götter werden nicht alt, und um ihre Füße, wie damals, spielen die Kinder, und auf den Bänken, unter Rosen, sitzen Liebende, welche den Anbruch der Sommernacht erwarten, und vorüber, Arm in Arm, gehen ein paar Studenten, von denen einer vielleicht in wiederum dreißig Jahren hier ähnliche Betrachtungen anstellt.
Nun kreuz ich die Charlottenburger Chaussee, auf der damals in weiten Zwischenräumen ein Omnibus und ein Kremser sich zeigte und auf der heut das unaufhörliche Hin und Her und Geklingel zweier Pferdebahnen ist. Rechts durch das Brandenburger Tor, dessen Viergespann im sonnigen Äther funkelt, blick ich in die Stadt, auf den Pariser Platz und unter die Linden, wo der Dunst des Tages
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