Bilder Aus Dem Berliner Leben
hin, das man wohl einen »Totenacker« nennen darf, und die melancholische, echt märkische, leicht hügelige Landschaft mit dem unermeßlichen Gewölbe des Himmels darüber bildet den für das Gemüt beruhigenden Abschluß. Es ist ein schöner Sieg der Humanität, daß der Arme fortan nicht auch im Tode noch gekennzeichnet sein soll; und manchem von uns, der mitten im Kampfe steht – manchem, der seinen Gott im Herzen trägt und in jedemMenschen seinen Bruder sieht, wird es wohltun zu denken, daß es wenigstens eine sichtbare Stätte gibt, an welcher jene großen Probleme der sozialen und religiösen Unterschiede, die das Leben nicht zu lösen vermag, zum Austrag gebracht worden sind; und daß auch er, wenn er will, seinen Ruheplatz sich da wählen kann, wo der Arme neben dem Reichen und der Bekenner der einen Kirche neben dem Bekenner der anderen schläft. Allerdings ist das Verhältnis zur Zeit noch ein höchst ungleiches: auf 2782 Armenleichen kamen in den drei Jahren von 1881 bis 1883 erst 18 bezahlte Gräber. Bei meinem letzten Besuch (August 1885) ruhten hier schon 11000 Arme, während die Gräber mit Kränzen und Denkmälern sich noch zählen ließen. Doch auch ein begüterter Bürger der Stadt hatte sich eben ein Erbbegräbnis hier oben erworben. Aber ein Anfang ist doch gemacht; und es verringert den Wert und die Bedeutung desselben keineswegs, daß er vorläufig den Armen allein zugute kommt. Unserer Stadt, die durch großartige Stiftungen, Krankenhäuser und Asyle so viel für die lebenden Armen getan, war es wohl würdig, dies für die toten Armen zu tun, denen eine frühere Zeit – »die gute, alte Zeit«, wie man zu sagen pflegte – nichts zu gewähren imstande war als »einen Sarg und ein Grab« und sonst Einöde ringsumher. Der Berliner Gemeindefriedhof darf unter den jüngeren Schöpfungen Berlins eine der wohltätigsten genannt werden und wird eine der folgenreichsten sein; angelegt nach dem Muster des allgemeinen Hamburger Friedhofs, welcher auch für die gesamte Bürgerschaft ohne Unterschied der Stände und des religiösen Bekenntnisses bestimmt ist, gewährt er schon jetzt einen wohltuenden Anblick und wird, unter Leitung eines Gartendirektors, in nicht ferner Zukunft ebenso wie jener einem öffentlichen Park ähnlich sehen.
Auch der Charitekirchhof ist nicht ganz so trostlosmehr, wie man sich ehemals einen Armenkirchhof dachte. Zwar gleich vornan ist wieder jener von langem Gras und Gestrüpp überwucherte Platz der Unbekannten, Namenlosen und Vergessenen, deren öde Sandhaufen nicht sobald aufgeschüttet sind, als sie auch schon wieder zusammenfallen. Aber weiterhin und längs der Mauern sind andere Gräber, die gerade darum das Herz so besonders rühren, weil sie zugleich Zeugen der Armut und der Liebe sind. Manch ein altes Mütterchen hab ich hier an einem frischen Hügel knien und ihn mit Efeupflänzchen bestecken sehen. Frauen und Kinder sind auch hier geschäftig, und nicht gänzlich fehlt es in dieser warmen Mittagsstunde dem Kirchhof an Besuchern. Viele der Gräber haben ihren kleinen Gedenkstein, dem man es wohl ansehen kann, daß er mit schweren Opfern beschafft worden ist; oder jene noch wohlfeilere Porzellantafel in Form eines aufgeschlagenen Buches, auf dessen beiden Blättern hier der Name des Entschlafenen und dort ein Bibelspruch, eine trostreiche Strophe geschrieben ist – kurzer Trost, den der Regen bald ausgelöscht haben wird! Wieder andere haben als einziges Zeichen einen schmalen, schwarzen Stab, auf welchem in weißer Schrift eine Nummer und ein Name stehen. Aber selbst diese Gräber sind in Grün gehüllt; die Blumen, die darüber leuchten, geben Kunde davon, daß der Toten, die darin ruhen, von den Überlebenden gedacht wird, und bereiten darauf vor, daß es traurigere Gräber gibt als selbst die der Armen.
Der anstoßende Kirchhof der Philippi-Gemeinde ist einer der vornehmeren der Stadt, vortrefflich gepflegt und mit stattlichen Denkmälern jeder Art geschmückt. Schon einmal, an einem trüben Novembermorgen vor bald acht Jahren, war ich auf diesem Kirchhof in einer damals noch gänzlich menschenleeren Gegend. FreiesFeld war um uns, dampfend von der Feuchtigkeit des winterlichen Tages, ein schwerer Himmel und nacktes Gezweig, von welchem der Nebel herabtroff. Eine lange Reihe von Trauerkutschen hielt vor dem Eingange des Kirchhofs, und in dem zahlreichen Gefolge der Leidtragenden fehlte kaum einer von den Koryphäen der Literatur und des Theaters: den wir der
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