Bilder Aus Dem Berliner Leben
die Andächtigen kommen heraus, meist Frauen und Mädchen, aber auch manch ein ernster, an Mühsal gewöhnter Mann, den kleinen Sohn an der Hand führend – manch einer, den die Mütze, die er trägt, als zum Arbeiterstande gehörend kennzeichnet; alle sehr einfach, jedoch dem Festtag angemessen gekleidet, die Frauen in wenig auffälligen Farben.
Von hier ab hören die Häuser fast ganz auf, und man hat zu beiden Seiten die Landschaft: zur Linken das Grün und den dunklen Waldstreifen der Jungfernheide, zur Rechten die Sandhügel der Reinickendorfer Gemarkung. Hier sind nur noch Kirchhöfe; der nächste der Begräbnisplatz der Charité. Die Königliche Charité, wie man weiß, ist die große Heilanstalt Berlins, welche schon von Friedrich Wilhelm I. angelegt, doch erst seit Friedrich dem Großen und später zu der gegenwärtigen Ausdehnung erweitert worden. In ihr werden durchschnittlich 1450 unbemittelte Kranke gepflegt, die meisten davon städtische Kranke. Der Begräbnisplatz dieser Anstalt sowie der Universitätsklinik ist der Charitékirchhof; hier werden alle diejenigen Verstorbenen bestattet, welchenoch Angehörige haben. Eine bestimmte Zahl der übrigen Leichen muß zu Unterrichtszwecken zur Anatomie geliefert werden. Jedoch setzt die betreffende Verordnung (welche schon aus dem Jahre 1718 stammt) ausdrücklich fest, daß dies nur mit den Leichen solcher Personen geschehen dürfe, welche jeden Familienanhalts hierselbst entbehren: »notorisch ganz verkommener Personen, um die sich niemand kümmert«. Doppelt Unglückliche! Fremd, arm, verkommen und ohne Familie! Zwar schwebt jener unheimliche Schrecken, welchen uns Gutzkow in seinen Erinnerungen »Aus der Knabenzeit« schildert, nicht mehr um den bei nächtlicher Weile dahinrasselnden Wagen. Aber wie sehr hat die Ziffer derer, die mit demselben befördert werden, sich mit der zunehmenden Einwohnerzahl Berlins vermehrt! Für den Charitékirchhof fehlen mir die genaueren Angaben. Aber auf den beiden anderen großen Armenkirchhöfen Berlins, dem in der Gerichts- und dem in der Friedenstraße, war das Verhältnis in den sechzehn Jahren von 1861 bis 1876 bereits 18827 zu 4101; und in den fünf Jahren von 1877 bis 1881 sogar 10427 zu 1366. So rapide mit der Größe wächst auch die Armut und das Elend. Diese sogenannten »Anatomieleichen«, die Särge mit Körperteilen aus der Anatomie, finden an einer abgesonderten Stelle des Armenkirchhofs ihren Platz, und sie sind es, welche den Armenkirchhöfen etwas so unsäglich Trauriges geben. Einen solchen Armenkirchhof, den in der Friedenstraße – vor dem Landsberger Tor – habe ich früher bereits einmal geschildert. Aber viel hat sich seitdem auch hier zum Bessern geändert: Im Jahre 1879 wurde der eine, im Jahre 1881 der andere der beiden städtischen Armenkirchhöfe geschlossen und ein großer Gemeindefriedhof im Osten der Stadt, bei Friedrichsfelde, eröffnet, nicht nur für die Armen allein, sondern als Begräbnisplatz für jeden, der hier zu ruhen wünscht, undzwar für Mitglieder aller Konfessionen. Noch ist es ein weiter, mühseliger Weg, der aus Berlin hierherführt. Die Stadt verliert sich hinter dem Wanderer, der durch die Frankfurter Allee kommt, die Häuser treten in immer größeren Abständen auseinander, bis sie fast unmerklich in die Vororte Lichtenberg und Friedrichsberg übergehen – halb städtisch, halb dörflich gebaut, und nun das flache Land ringsum, dürftige Felder zu beiden Seiten, leicht ansteigend, mit einer Straße, durch die man tief im Sande watet, und einer doppelten Reihe uralter Linden mit knorrigen Stämmen und spärlichem Laube. Nun kreuzt die Bahn den Weg, und nun erst zweigt sich eine steingepflasterte Straße ab, die zu der mäßigen Höhe leitet. Hier stehen wir vor einem efeuumrankten Gittertor, über welchem ein einfaches Kreuz sich erhebt und darunter die Inschrift: »Gemeindefriedhof für Berlin«. Tritt man durch eine der angelehnten Türen, so ist man aus der Sandwüste, die Berlin umgibt, wie in einen Garten versetzt, mit Bosquets und Ruhebänken und weiten Wiesenflächen. Vor einer Stunde noch mitten in dem dichten Gewühl von Berlin, umgibt uns hier Einsamkeit und vollkommene Stille, Blumenduft und Geruch des frischen Grüns. Auch hier ist den Armen nicht mehr gegeben als ihre Nummer, ihre zweieinhalb Fuß Erde und je zwischen zwei Horizontalreihen ein Gang von zwei Fuß Breite; doch eine sorglich gepflegte Rasendecke breitet sich über jedes Karree von Gräbern
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