Bilder Aus Dem Berliner Leben
präsentiert er sich schon ganz anders, er hatdie geschlossene quadratische Form, ist fast so groß wie der Dönhoffplatz, und in der Mitte auf einer Erderhöhung steht die Dankeskirche. Man weiß, daß diese Kirche zur dankbaren Erinnerung an die zweimalige providentielle Errettung unseres Kaisers von den Attentaten des Jahres 1878 aus freiwilligen Beiträgen erbaut und am 3. Januar 1884 eingeweiht worden ist. Bei einer Dankeskirche, welche dem Andenken des ersten deutschen Kaisers im wiedererstandenen Deutschen Reich gewidmet sein soll, erschien es dem Erbauer, August Orth, angemessen, in den Formen an die Traditionen unserer deutschen Kaiserzeit anzuknüpfen: Er wählte demgemäß den romanischen Stil unter Mitbenützung der Konstruktionen der späteren Gewölbebauten. Aus gelben Verblendsteinen und Terrakotten aufgeführt, macht das von allen Seiten freistehende Gotteshaus mit seinen hohen, hellen Fenstern, seiner Kuppel und seinem schlank aufstrebenden Turm einen lichtvollen, erhebenden Eindruck; doppelt so, weil es hier steht, der Mittelpunkt eines neuen Gemeindelebens und zugleich das erste monumentale Bauwerk von einem jetzt schon großen historischen Charakter in dieser Gegend, die vor wenigen Jahren noch Einöde war, einzig bewohnt von kleinen Pächtern, Ackersleuten und Schäfern, welche keine Geschichte hatten und nichts als leicht verwischbare Spuren gelassen haben.
Freilich steht die Kirche noch kahl auf ihrem steinigen Hügel, und der Platz selbst ist baumlos. Aber auch hier wird die Stadt gewiß für den Schmuck des Grüns sorgen, welches viel dazu beitragen dürfte, diese bis jetzt ziemlich monotone Fläche freundlich zu beleben und der Kirche den rechten Hintergrund zu geben. Es ist hier eben alles noch in einem merkwürdigen Mittelzustand begriffen, halb Dorf, halb Stadt, und wenn man weiter hinauskommt, halb Feldweg, halb Straße. NiedrigeHäuser aus den Kolonistentagen, manche mehr Hütten als Häuser, mit Fenstern, die die Erde berühren, und einem steilen Dach darüber, wechseln mit großen kasernenartigen Gebäuden, die den Stempel der ersten städtischen Bebauung tragen; dann wieder lange, kahle, halbverfallene Gartenmauern mit irgendeinem verwitterten Haus dahinter, das in seiner völligen Einsamkeit wie verwunschen aussieht, und auf einmal Baugerüste mit Konstruktionen darin emporwachsend, von der allermodernsten Form. Aber das Werdende, Ringende freut das Auge; man hat auch hier das Gefühl, mitten in einer mächtigen Entwicklung zu sein, und dazu tönt in vollen Strömen Orgel und Choral aus der Dankeskirche, während die Sonne hoch steht über dem Platz, auf welchen kein anderer Schatten fällt als nur der verkürzte des Turmes.
Von hier führt die Müllerstraße weiter bis hinaus nach dem Dorf und Schlößchen der Humboldt, nach Tegel, die alte Tegeler Chaussee, schnurgerade, unabsehbar, sie selber die Fortsetzung der Chausseestraße und beide zusammen fast doppelt so lang als die bis jetzt längste Straße von Berlin, die große Friedrichstraße vom Belle-Alliance-Platz bis zum Oranienburger Tor. Wenn einst die Müllerstraße fertig bebaut ist, wird man in einer Linie, die nur an zwei Stellen, dem Belle-Alliance-Platz und dem Oranienburger Tor, in einem stumpfen Winkel leicht von der Geraden abweicht, den ganzen Weg vom Kreuzberg bis Tegel, das heißt vom südlichsten bis zum nördlichsten Punkte Berlins, drei Stunden lang unter nichts als Häusern wandern.
Einstweilen jedoch ist die Müllerstraße nur erst streckenweise bebaut, links sind Fabriken, rechts sind Gärten; dann kommt wieder eine Reihe Häuser, zwischen denen sich gleichfalls noch großenteils unbebaute Straßen abzweigen, dann wieder offnes Land, so daß manmeint, hier sei die Stadt am Ende, bis sie nach einiger Zeit abermals beginnt. Viel Grün ist hier und alles gut gehalten. An der Ecke der Gerichtsstraße, die, vom Humboldthain herabkommend, hier in die Müllerstraße mündet, ist eine schöne, umfangreiche Anlage, Ruheplatz genannt, mit Rasenplätzen, Bosquets und schattigen Bäumen, unter welchen die Kinder spielen und alte Männer in sonntäglichem Behagen mit der langen Pfeife sitzen. Etwas weiter, ebenfalls auf einem Platze mit Rasen, Beeten und Büschen, an denen der Flieder in voller Blüte steht, die Nazarethkirche; der Schlußchoral tönt in den stillen Mittag hinaus, und die Kinder halten ein in ihren Spielen. Nun öffnen sich die Türen des bescheidenen Gotteshauses, das nicht einmal einen Turm hat, und
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