Bilder Aus Dem Berliner Leben
unseren Stadtteilen die Kennzeichen seiner Entstehung noch am deutlichsten zeigt und gleichsam vor unseren Augen den Prozeß in allen seinen wesentlichen Zügen noch einmal wiederholte, durch welche dieser unwirtliche Boden in eine der glänzendsten Städte der Welt verwandelt ward. Als die Stadt Berlin im Jahre 1817 von dem letzten Erbpächter Vorwerk und Ländereien unter gleichzeitiger Ablösung der Erbpacht erwarb, waren nicht mehr als siebenundzwanzig Kolonistenstellen vorhanden. Aber schon im Jahre 1820 hatte sich die Zahl derselben auf mehrere Hundert erhöht, 1823 zählte der Wedding 160 Wohnhäuser und 1146 Einwohner, vier Jahre später 226 Wohnhäuser, 16 Fabriken und Mühlen,2217 Einwohner, und im Jahre 1842 beschreibt Fidicin den Wedding als »eine ziemlich weitläufige Kolonie, welche sich von der Chausseestraße bis zum Gesundbrunnen hinzieht und in mehr als 350 Grundstücken mit 3700 Einwohnern besteht«. So weit ab von Berlin war der Wedding damals, daß noch zu Fidicins Zeiten der seit Bebauung der Bergstraße hierher versetzte Galgen stand, das Hochgericht, an welchen noch immer die Namen der Hoch- und der Gerichtsstraße erinnern. Aber wenn auch über ein weites Terrain verstreut und sehr entfernt noch von einer eigentlichen Konzentration, hatte doch inzwischen schon der Keim eines Gemeindelebens sich zu entwickeln begonnen. Das erste, was der Magistrat von Berlin für die neue Schöpfung tat, war der Bau eines Schulhauses, welches der nachmaligen Schulstraße den Namen gab, anfänglich nur ein Klassenzimmer und eine Lehrerwohnung enthielt und am 15. Oktober 1821 mit fünf Knaben und sechs Mädchen eröffnet ward. Vierzehn Jahre später, 1835, kam die Kirche – die schöne kleine Nazarethkirche, welche König Friedrich Wilhelm III. nach Schinkelschem Entwurfe bauen ließ. Nun steigerte sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt die Bevölkerungsziffer der Kolonie, neue Straßen entstanden, die vorhandenen dehnten sich aus, und endlich, im Jahre 1861, ward der Wedding in den Stadtbezirk von Berlin inkorporiert. Nicht lange, so genügte die kleine Kirche nicht mehr, und eine zweite größere, die Dankeskirche, wuchs empor, mit einer neuen Gemeinde, zu welcher die Parochie der Nazareth-Kirche 4100 Seelen abzweigte. Viele von den hier angeführten Daten verdanke ich der inhaltreichen kleinen Schrift »Geschichte der Nazareth-Gemeinde auf dem Wedding zu Berlin«, welche zur Feier ihres fünfzigjährigen Bestehens der gegenwärtige Pfarrer derselben, Herr L. Diestelkamp, veröffentlicht hat.
Dies ist in allgemeinen Umrissen die Geschichte des Wedding, der, zur Zeit seiner Inkorporation 10 716Einwohner zählend, heute noch immer unser am schwächsten bebautes und am dünnsten bevölkertes Terrain ist, aber doch, in Anbetracht der kurzen Zeit seit seiner Umwandlung aus Acker- und Heideland in Wohngebäude sowie seiner nichts weniger als begünstigten Lage, die größten Fortschritte von allen Stadtteilen aufweist.
Wenn der Wedding, wie der ganze Norden Berlins überhaupt, vorwiegend von den weniger bemittelten Klassen, Arbeitern und kleinen Leuten bewohnt wird, so folgt doch nicht daraus, daß dies ausschließlich der Fall sei. Freilich stand der Wedding lange im Ruf, eine Ablagerung des Berliner Gesindels zu sein, und nicht ohne Grund, da wegen der billigen Mieten und der größeren Entfernung von der Berliner Contrôle viel zweifelhaftes Element sich gerade hierher zog in das noch nicht völlig geordnete Gemeindewesen. Aber diese Zustände haben sich längst reguliert, und wir dürfen dem um das innere, geistige Leben seiner Parochie sowie namentlich durch Errichtung einer Arbeiterkolonie innerhalb derselben sehr verdienten Pfarrer wohl glauben, wenn er (in der zitierten Schrift Seite 21) sagt: »Wer aber einmal in hiesiger Gegend ansässig geworden, merkt bald, daß es sich recht gut hier wohnt, daß die hiesige Bevölkerung eine überaus friedliche und angenehme und das Vorurteil mancher Bewohner feinerer Viertel, als ob man hier nicht sicher wohnen könne, ganz unbegründet ist.« Gleichwie in den übrigen Teilen des Nordens haben auch hier viele Fabrikherren sich in der Nähe ihrer Fabriken zierliche Villen in schönen Gärten gebaut; und in nicht wenigen dieser hübschen Häuser, welche die gute Luft des fast noch offenen Landes haben, wohnen Beamte, Lehrer und kleinere Rentiers.
Als ich zuletzt auf dem Weddingplatz war, im Jahre 1879, da war alles noch Sand ringsum, ein freudloser Anblick. Jetzt
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