Bilder bluten nicht
Sie, um die Dinge zu vereinfachen, holen Sie mich doch inzwischen in meinem Hotel ab. Ich bin in demselben abgestiegen wie letztes Jahr. Rue de Valois, ja. Wir sumpfen zusammen, wenn Sie nichts anderes zu tun haben. Und wir werden den richtigen Zug für meine Rückfahrt aussuchen...“
Im Jahr zuvor hatte ich ihn ein wenig spöttisch gefunden, aber diesmal hätte ich schwören können, daß er sich meine Visage geradezu leistete. Mein Gott, war das wirklich so?
„Na gut, wer zuletzt lacht, lacht am besten“, sagte ich zu Hélène, meiner Sekretärin. „Wenn er mich schon dazu einlädt, an seinen Ausschweifungen teilzunehmen, lasse ich mich nicht lange bitten.“
Am selben Abend traf ich ihn in seinem Hotel.
Inzwischen hatte ich den Brief von Madame Lheureux erhalten. Derselbe Wortlaut wie in dem vorangegangenen, aber insgesamt ein bißchen nervöser. Sie fand allmählich, daß dieser Spaß, wie sie es nannte, weder länger dauern noch sich wiederholen dürfe, falls es ein Spaß bleiben solle. Abgesehen also von dem leicht wütenden Zittern, mit dem, wie mir schien, die Worte hingeschrieben worden waren, blieben die Anweisungen unverändert: den flüchtigen Ehemann sobald wie möglich wieder in den Zug setzen.
Was ich ein paar Tage später auch tat, nachdem ich Lheureux bei seinen nächtlichen Eskapaden begleitet hatte. Er hatte schon seine Gewohnheiten in Paris (das er übrigens gut kannte, weil er früher viele Jahre hier gelebt hatte). Aber auf seinen Ausflügen blieb er ein Kleinbürger. Sein Zeitplan war genau eingeteilt. Restaurants, Theater, Kinos, Tribut an die Venus. All das wurde zu festgelegten Zeiten und an immer denselben Orten erledigt, sogar mit denselben Personen. Und immer korrekt, selbst wenn er betrunken war. Außer als er die Clocharde fortjagte. Aber die Clochards, Männer oder Frauen, sind wie Kletten, die betteln nicht unaufdringlich. Kurz und gut, so war es 1953 und auch 1952. Ich setzte meinen Lheureux in einer Nacht, als er besoffen war, in den Zug nach Limoges. Und weil es einen Gott für Betrunkene gibt, kam er im sicheren Hafen an.
Alle waren zufrieden: Madame Lheureux, die ihren Mann schnell wieder auf Vordermann brachte; der Ehemann, der sich mit der Beaufsichtigung durch mich abfand; und Nestor Burma, der dafür bezahlt wurde, das Ehepaar Lheureux glücklich („heureux“) zu machen. Es blieb nur zu wünschen, daß sich das jeden Frühling wiederholte.
Aber jetzt hatten wir Januar. Louis Lheureux hatte seinen Frühlingstermin vorverlegt. Er kümmerte sich weder um den gregorianischen noch um den russischen noch um den natürlichen Kalender. Ein Kalender à la Lheureux war der beste, den es gab. Und wenn ich dem Brief - dem üblichen Brief - von Madame Lheureux, der diesmal deutliche und sehr heftige Anzeichen von Unruhe und Ärger verriet und den ich wegen dieser Streiks mit ziemlicher Verspätung erhalten hatte, Glauben schenken konnte, dann war er bereits seit mehreren Tagen in Paris. Klar an dem Fall war nur, daß Madame Lheureux bald ihren Auftrag zurückziehen würde. Ich fühlte es. Ich war ihr nicht sehr von Nutzen gewesen, das mußte man zugeben. Diese Komödie — Geld von der Frau zu kassieren, um den Mann wiederzufinden, und Geld vom Mann, um ihn während seines Aufenthalts in der Hauptstadt zu begleiten - diese Komödie würde nicht ewig dauern. Und vielleicht weil ich spürte, daß ich diesen Fall sehr bald lossein würde, hatte ich mich ruckzuck auf die Suche nach Lheureux gemacht, der sich, wenn er auch wieder in demselben Hotel abgestiegen war (denn er versteckte sich nicht!), nicht gemeldet hatte, das alte Schlitzohr! In der Hoffnung, mich noch einmal aushalten zu lassen, wer weiß!
***
Mich aushalten zu lassen!
Spielen Sie mal Detektiv!
Nachdem Louis Lheureux das Dessert bestellt hatte, stand er auf und ging aufs Klo. Ich blieb alleine vor einem Stück Brie sitzen. Während ich aß, überflog ich eine Zeitung vom Vortag, die ich von einem Stuhl am Nachbartisch, wo .sie herumlag, geliehen hatte. Monsieur René Coty, Zweiter Präsident der IV. Republik, hatte seine traditionelle Botschaft an die beiden Kammern gerichtet. Emile Buisson, der Staatsfeind Nr. 1, erschien, zusammen mit seiner ganzen Bande, vor dem Schwurgericht. Wohnungsnot in Berlin, wo die Repräsentanten der Vier Siegermächte sich nicht über die Wahl eines Verhandlungsortes einigen konnten. Die Suche nach dem geklauten Bild von Raffael - dem Bild aus dem Louvre und seinem Dieb -
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