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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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entspringt. Weiß schimmert das Quellwasser vor der dunklen, runden Höhlung im Spalt, den die Quelle sich gegraben hat, dann
     mündet der Quell in einen dunkelgrünen, grasumstandenen Teich. Neben der Quelle lagert auf einem hellblauen Tuch die nackte
     Schöne, entspannt und hingegeben an das Licht des Sommertages, einen Arm hat sie unter den Kopf geschoben, als könne sie ihn
     so noch besser der Sonne darbieten. Sie hat die Augen geschlossen, die Füße übereinandergekreuzt – und doch, dachte Segantini,
     wäre es ein Leichtes, ihr die Beine zu öffnen. Doch wozu, der Quell, der Anfang der Welt lag ja schon schamlos offen in vielfacher
     Vergrößerung und war doch nahezu unverfänglich ein Naturbild des weiblichen Geschlechts, das die Liegende zwischen ihren Beinen
     verbarg.
    Und da spürte Segantini eine qualvolle, schmerzhafte Sehnsucht, die er nicht benennen wollte. Er drehte das Bild wieder dem
     Erdboden zu, wo es gelegen hatte. Es war ein vergebliches, eitles Sehnen.
    ***
    »Das bin nicht ich«, sagte Nika, als sie das Gemälde sah, vor das Segantini sie geführt hatte. »Nur die Haare stimmen. Sonst
     stimmt nichts.«
    Segantini lächelte. »Du hast mir ja auch nicht Modell gesessen. Das Bild ist eine Allegorie, mit der ich einen Gedanken ausdrücken
     möchte, und kein Porträt von dir.«
    »Und wozu haben Sie mich dann gebraucht?« Nika war gekränkt.
    »Du hast mich zu dem Bild inspiriert. Es stand mir plötzlich vor Augen, als ich dich am See sah, wie du dich im Wasser bespiegelt
     hast, damals, als ich mit dem Wagen vorbeifuhr.«
    Nika betrachtete stumm das Bild. Es war noch nicht fertig, das immerhin sah sie, Segantini würde noch viele winzige Striche
     auf die Leinwand setzen. Aber das Ganze würde sich dadurch kaum noch verändern.
    Segantini hatte ein Breitformat gewählt. Das Geschehen spielte sich in der Mitte des Bildes ab. Es war ein Bild ohne Himmel.
     Das störte Nika. Es gab kein Entrinnen aus dem Geschehen, das hier abgebildet war, keine Möglichkeit für den Blick, zu entweichen.
     Der obere Bildrand schnitt einfach das Grün der Bäume ab, die dort hinten standen, wo die Wiesen endeten. Die große, leicht
     gewellte Grasfläche, die fast die ganze obere Hälfte des Bildes ausfüllte, lag im hellen Tageslicht. Aber der Ort, an den
     Segantini sie geführt hatte, war ja im Wald verborgen gewesen.
    Im Vordergrund erblickte Nika die Gletschermühle, aber auch die Gletschermühle war nicht die Gletschermühle. Der Fels, über
     den sie geklettert war und der das tiefe Wasserloch auf einer Seite schützend umgab, war hier abgeflacht, fast eine horizontale
     Linie in der Bildmitte. Und da stand sie, nackt in dieser gnadenlos in Licht getauchten Landschaft, allen Blicken preisgegeben.
    »Der Fels sieht aus wie eine Brücke«, stellte Nika fest.
    Wohl war da noch die Alpenrose nahe beim Wasser, Nika erinnerte sich an sie, und als seien es ihre Kleider, war ein weißes
     Tuch über den Felsen geworfen.
    »Was ist das für ein weißes Tuch da auf dem Felsen?«, fragte sie.
    »Weiß ist die Farbe der Unschuld«, antwortete Segantini.
    »Es sieht aus wie ein abgelegtes Kleid«, meinte Nika.
    »Also stimmt doch noch etwas«, gab er zurück, »damals, bei der Gletschermühle, hast du dich ausgezogen.«
    Beklommen sah Nika das Mädchen auf dem Bild an. Es stützte sich mit der linken Hand auf den Felsen. Mit der rechten hielt
     es sein üppiges langes Haar aus dem Gesicht, rotblond wie ihres, und blickte in das Wasser hinab. Nika war zwar auch groß
     und schlank, aber dieses Mädchen hier war viel jünger als sie.
    »Dies hier ist ja noch ein Mädchen«, sagte sie enttäuscht, »keine Frau!«
    »Sie steht an der Schwelle zum Frausein«, antwortete Segantini. »Bald wird sie über die Brücke gehen.«
    »Deshalb betrachtet sie sich? Um zu sehen, wer sie ist?«
    Man musste mit dem sich bespiegelnden Mädchen hinunterschauen in das Wasser. Da, wo das Mädchen hinsah, war das Wasser von
     einem tiefen Blau. Wo der Fels es beschattete, war es jedoch sumpfig braun. Und dann bemerkte Nika etwas, was das Mädchen
     offenbar noch gar nicht sah. Ein Ungeheuer lag im Wasser, eine Seeschlange mit einem Drachenkopf, braun und hässlich, mit
     gefletschten Zähnen. »Sie sieht gar nicht, was da lauert!«, rief Nika betroffen aus.
    »Weil sie ganz in ihren eigenen Anblick versunken ist und nichts anderes wahrnimmt als ihr eigenes Gesicht. Die Eitelkeit
     ist eine Quelle des Übels.«
    Nika war beleidigt. Wenn

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