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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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hatte sie ihn angestarrt wie eine
     Erscheinung. Wenn man lange schlecht behandelt wird, kann man nicht glauben, dass man plötzlich gut behandelt wird. Man muss
     sich erst langsam daran gewöhnen.
    Nika saß reglos mit zusammengepressten Knien, die Hände im Schoß auf ihrem Bett und ließ sich von der Sonne bescheinen. Sie
     dachte an Signore Robustelli, der sie mit freundlicher Verwunderung angesehen hatte. Er musste wohl bemerkt haben, dass sie
     ihn in diesem Moment anstarrte wie einen Geist. Sie hatte zwar, ohne sich dessen bewusst zu sein, begonnen,sich auf ihn zu verlassen, ihn ins Vertrauen zu ziehen, ihn um Hilfe zu bitten, aber man kann Leute tausendmal sehen und sie
     nicht sehen. Er war eben Signore Robustelli gewesen. Nachgedacht hatte sie immer nur über Segantini. In diesem Moment aber
     nahm sie ihn, Achille Robustelli, plötzlich wahr. Er war jünger als Segantini, schlanker. Wirkte eleganter und beweglicher.
     War weniger raumgreifend als Segantini, wohl auch weniger von sich eingenommen. Robustelli hatte dunkles, leicht gewelltes
     Haar, das neben Segantinis Lockenpracht unauffällig wirkte. An den Schläfen entdeckte Nika ein erstes Silbergrau, ein Gegensatz
     zu dem jungen, glatten Gesicht. Er trug keinen Bart wie Segantini, verbarg seine Lippen nicht, die jetzt gerade lächelten,
     als wollten sie sagen: Nun? Und? Bist du wieder stumm geworden?
    Da war sie aus ihren Gedanken zurückgekommen, lächelte, sah ihn an in der Weise, die besagt: Ah, sieh an, das bist also du.
    Na endlich, sagte sein Blick.
    »Nika«, sagte Signore Robustelli, »ich brauche dich im Haus. Du musst jetzt im Service aushelfen. Ich weiß, du hast gerne
     im Garten gearbeitet. Aber der venezianische Ball muss vorbereitet werden, während der normale Service weiterläuft. Wir brauchen
     jetzt jede freie Hand, die zupacken kann. Geh gleich zum Chef de Service, melde dich dort und lass dir dann die passenden
     Kleider geben. Und«, sagte er nach einem Blick auf ihre Hände, »schrubbe dir erst die Hände. Und die Nägel.« Sie sah auf ihre
     Hände, denen man die Gartenarbeit ansah, dann auf Signore Robustelli, der laut herauslachte.
    »Schau nicht so. Ich weiß, das ist alles neu für dich. Aber du wirst dich daran gewöhnen.«
    ***
    Mit dem Speisesaal des Hotel Kursaal Maloja betrat Nika noch einmal eine neue Welt. Was sie nun sah, übertraf alles, was sie
     sich bisher hatte vorstellen können. Wohl hatte sie mit Gaetano den Kies einer Auffahrt geharkt, die auf die Fassade eines
     wahren Schlosses zuführte und auf der Hunderte von Equipagen und Kutschen vorfuhren. Sie hatte das Entrée gesehen, von dem
     aus man zu Signore Robustellis Büro gelangte. Gaetano und sie hatten die Blumenrabatten im Rondell bepflanzt, sie kannte die
     kleine Allee, die zum See führte, wo die Ruderboote lagen und der Vaporetto. Das Boot dampfte über das Wasser und brachte
     die Gäste zum High Tea ins Hotel Alpenrose in Sils-Maria oder zum Tontaubenschießen nach Isola, wo noch vor wenigen Jahren
     die Diener nicht Tontauben, sondern lebendige Vögel in die Luft geworfen hatten. Früh am Morgen hatten sie überprüft, ob der
     Golfplatz hinter dem Haus, die Tennisplätze sich auch makellos dem Auge der Hotelgäste darboten.
    Nika hatte die Eingeweide dieser grandiosen Welt gesehen, wo die Bettwäsche von Hunderten von Betten und eine unendliche Menge
     von Tischwäsche, Handtüchern, Schürzen und Servietten gewaschen und gebügelt wurden.
    Aber nichts von alledem hatte sie vorbereitet auf den Glanz des Speisesaals. Das Tafelsilber von den hoch angesehenen Brüdern
     Hepp aus Pforzheim, die Baccarat-Kristallwaren aus Frankreich funkelten im Licht des riesigen Saales, in dem fünfhundert Gäste
     an den langen Tischen der Table d’Hôte bedient werden konnten. Nika erschrak vor der Größe des Raumes, der so einschüchternd
     wirkte, dass sie sich unbedeutend vorkam wie eine kleine schwarze Ameise. Aber zum Glück gab es eine ganze Kolonne anderer
     schwarzer Ameisen, Kellner und Serviererinnen, die silberne Platten weiterreichten und wieder abtrugen und wie in einem einstudierten
     strengen Reigen dafür sorgten, dass die Gäste sich nach allenRegeln der Kunst durch das Menü aßen: Potage Brunoise, Truite de Rivière frites Sauce Mayonnaise, Pommes naturelles, Filet
     de Bœuf à la Milanaise, Caneton à la Rouennaise, Haricots verts sautés, Chapons de Bourg, Salade, Glace, Tuttifrutti, Patisserie.
     Nika wurde herumkommandiert: Tische

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