Bildnis eines Mädchens
Gesichtszüge. Die waren eigenwillig, nicht ganz regelmäßig, und ihre Augen hatten eine seltene Farbe. Sie näherte sich
ihrem Ebenbild im Spiegel, bemerkte braune Pünktchen im Blaugrün der Pupille. Das sah aus, als sprühten Funken darin auf.
Beschämt dachte sie an das, was Segantini über die Eitelkeit gesagt hatte, und schloss schuldbewusst die Augen.
Die Augen des jungen Mannes im Speisesaal waren braun gewesen. Alles an ihm wirkte so unbeschwert, so selbstverständlich.
Als sei das Leben leicht und fröhlich. Warum hatte er sie angesprochen? Es gab doch genug Damen im Hotel, die gelangweilt
herumspazierten und darauf warteten, dass ein Mann wie er das Wort an sie richtete.
Nika sah sich im Spiegel ein letztes Mal tief in die Augen. Ja, sie hätte sich gern länger mit dem jungen Mann unterhal-ten.
Sie hatte das Gefühl, die Zeit mit ihm könne wie im Fluge vergehen, denn es war fast, als verleihe er einem Flügel.
***
»Und«, fragte Andrina ihre Mutter, »gibt die Straniera noch etwas ab von ihrem Verdienst?« Sie machte einen ihrer seltenen
Besuche zu Hause.
»Warum sollte sie?«, sagte Benedetta. »Nika wohnt doch garnicht mehr bei uns. Sie schläft und isst jetzt doch im Hotel. Wie würde ich ihr da noch Geld abknöpfen? Willst du einen Kaffee?«
»Nein«, antwortete Andrina unwirsch, »dein Kaffee schmeckt nach allem, nur nicht nach einer Kaffeebohne. Achille lässt den
Kaffee aus Italien schicken …«
»Was für ein Achille?«, fragte Benedetta, die auf diesem Ohr schwerhörig war.
»Signore Robustelli, mein Gott. Gewöhne dich an ihn.« Andrina reckte sich. »Wir werden heiraten. Er stellt mich seiner Mutter
vor.«
Benedetta drehte ihrer Tochter den Rücken zu und goss sich einen Kaffee ein. »Dann trinkst du eben keinen. Und du wirst nicht
verlangen, dass ich den Mann gutheiße, der von seinem feinen, geleckten Schreibtisch aus meinen Sohn in den Tod geschickt
hat.«
»Mein Gott, bist du borniert. Er kann doch nichts für Lucas Tod! Er hat doch nur eine Verbindung hergestellt!«
»Er hat ihn empfohlen.« Benedetta rührte einen Löffel Zucker in den Kaffee. Das tat sie sonst nur sonntags, aber jetzt brauchte
sie etwas Süßes. Ihre Tochter wurde ihr immer fremder, besonders seit sie im Hotel arbeitete.
Andrina war aufgebracht. »Aber jemanden zu empfehlen heißt doch nicht, ihn zu töten oder mit daran schuld zu sein, wenn was
passiert!«
»Aber man konnte wissen, dass es gefährlich ist. Ich hab es gewusst. Und ihr habt es auch gewusst. Alle die Arbeiter, die
schon umgekommen sind. Allein am Gotthard. Das war doch kein Geheimnis. Mein Luca hat wie andere sein Leben gegeben, damit
Leute wie dein Robustelli bequem über die Alpen kommen. Obwohl sie besser dort bleiben würden, wo sie herkommen.«
Andrina sprang von ihrem Stuhl auf. »Und ich werde ihndoch heiraten! Eine glänzende Zukunft werde ich haben. Im Gegensatz zu euch. Und jetzt gehe ich.«
Andrina war wütend. Nicht nur auf ihre Mutter, die nicht über die eigene Haustür, Maloja und Stampa hinaussah, sondern auch
auf Achille Robustelli, den sie gerade so glühend verteidigt hatte. Es war nicht zu begreifen, was er alles für Nika tat.
Für diese Person, die ihre Brüder angeschleppt hatten und die nun auf einmal überall zu sein schien und ihre Fäden spann.
Und sie, Andrina, hatte sie noch ins Hotel gebracht! Sie hätte sich ohrfeigen können dafür. Und zu allem Überfluss residierte
die Straniera jetzt in einem Einzelzimmer, arbeitete mitten unter den Gästen, während sie, Andrina, noch immer die Zimmer
putzte. Aber sie wollte Achille nicht schon wieder darauf ansprechen, nicht, bevor sie seiner Mutter vorgestellt worden war.
Sie war fest entschlossen, einen guten Eindruck zu machen, aber einfach hinnehmen würde sie das nicht.
***
Signora Robustelli, klein, rund, schwarz gekleidet, war beeindruckt von dem Hotel, das ihr Sohn leitete, wenn ihr auch die
Gegend, trotz des mondänen Publikums, ein wenig rau und einsam erschien.
»Ich leite das Hotel nicht«, sagte Achille mit Nachdruck, »ich bin nur der stellvertretende Leiter und für das Personal zuständig.«
»Das ist doch fast das Gleiche«, sagte seine Mutter. »Aber bist du nicht doch einsam hier? Das Dorf besteht ja nur aus ein
paar Häusern. Davon abgesehen, dass es ein Dorf ist und keine Stadt wie Bergamo.«
»Dies ist ein Palasthotel, Mama, ein Grandhotel, wie es das nicht einmal in Mailand gibt. Ich
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