Bildnis eines Mädchens
beschloss, augenblicklich nach St. Moritz zu reisen,
und zwar ohne ihren Mann. Sie beorderte stattdessen ihre Cousine Frieda als Begleitperson und verlangte telefonisch nach einem
Termin bei Dr. Bernhard. Sie war außer sich. Die Verlobung auflösen! Es war schlimm genug, dass Adrians Familie sich distanzierte aus dem
einzigen Grund, dass Mathilde an Tuberkulose erkrankt war. Welch ein Affront für sie und Franz, und natürlich für Mathilde.
Aber immerhin stand Adrian zu seiner Verlobten, und es war anzunehmen, dass seine Eltern sich eines Tages wieder mit ihm und
seiner Entscheidung versöhnen würden. Er war schließlich der einzige Sohn und Erbe der Bank. Und nun das.
Wer hatte dem Kind nur solche Flausen in den Kopf gesetzt?Hatte sie, Emma, nicht gleich ein schlechtes Gefühl dabei gehabt, dass Betsy Mathilde begleitete? Betsy war absolut das falsche
Vorbild für eine junge Frau, die noch nicht gefestigt und so neugierig wie ihre Tochter war. Und die Berge. Emma griff sich
an die Stirn, als ob sie Kopfschmerzen hätte. Wenn man zu lange dort oben war, bekam man wahrscheinlich einen Koller. Aber
das alles würde sich rückgängig machen lassen. Wenn sie Mathilde nur erst wieder bei sich zu Hause hatte.
»Es ist ganz einfach, Mama. Ich liebe ihn nicht«, sagte Mathilde.
»So. Du liebst ihn nicht. Und seit wann weißt du das?«
»Ich habe es schon lange gespürt, aber ich hätte es nicht sagen können, ehe ich hierherkam. Also … eigentlich hab ich ihn nie geliebt«, kam es kleinlaut von Mathilde, die vom Besuch ihrer Mutter völlig überrascht war –
ein Effekt, den Emma Schobinger mit Bedacht einkalkuliert hatte.
»So, so.« Emma Schobinger schickte mit einer ungnädigen Handbewegung die Krankenschwester aus dem Zimmer, die gerade die Fieberthermometer
austeilte. »Ich will dir etwas sagen«, fuhr sie fort. »Es ist schön, den Mann zu lieben, den man heiratet. Aber nach ein paar
Jahren sieht die Sache sowieso anders aus, nur stellt man dann fest, dass man gleichwohl immer noch verheiratet ist.«
»Aber Mama«, antwortete Mathilde entrüstet, »willst du sagen, du liebst Papa nicht mehr?«
»Doch, doch. Aber anders. Zur Diskussion stehen hier allerdings, wenn ich dich daran erinnern darf, nicht deine Eltern, sondern
dein Betragen. Und das, mein liebes Kind, ist unakzeptabel.« Obwohl Emma Schobinger nicht groß war, wirkte sie wie eine Wand,
an der man sich den Kopf einrennen würde.
Mathilde überlegte, ob sie ehrlicherweise Edward erwähnen sollte, fand jedoch dann, es sei besser, Schritt für Schritt vorzugehen
und Dinge, die die Situation noch weiter ungünstig beeinflussen konnten, lieber nicht zu früh zu erwähnen.
»Ist da ein anderer Mann im Spiel?«, fragte ihre Mutter auch sogleich, als hätte sie Mathildes Gedanken gelesen. Weltfremd
war sie nicht. »Adrian erwähnte einen Edward, der dich besucht, und zwar häufiger, als sich das für eine verlobte junge Frau
schickt.«
»Ach, das ist überhaupt nichts«, antwortete Mathilde, ebenso entschlossen, für ihre Sache zu kämpfen, wie ihre Mutter. Ehe
Edward ins Spiel kommen konnte, musste erst die Verlobung gelöst werden. Und deshalb sagte sie leichthin: »Es wird ja wohl
erlaubt sein, dass ich Besuch empfange. Einsamkeit ist der Gesundung nicht förderlich, sagen die Ärzte.«
»Papperlapapp«, entgegnete Emma Schobinger darauf nur.
Mathilde stieg das Blut zu Kopf, sodass es aussah, als stünden ihre Ringellöckchen unter Strom. Sie atmete tief durch. »Mir
ist hier oben klar geworden, Mutter, nicht zuletzt durch die Krankheit, dass ich mein Leben nicht mit Adrian verbringen möchte.
Nichts spricht gegen ihn, das weiß ich, er wäre ein tadelloser Schwiegersohn und Ehemann.« Sie straffte sich noch einmal und
zwang sich, ihrer Mutter ins Gesicht zu sehen. »Aber ich will nun einmal den Mann lieben, den ich heirate.«
Emma Schobinger stand auf. Sie wusste, wie gern Mathilde sie in langfädige Diskussionen verwickelte. »Dieses Mal«, sagte sie
knapp, »ist mir das alles gleich. Du wirst Adrian heiraten. Und lass deine Krankheit aus dem Spiel. Kein dramatisches Fieber
bitte. Dr. Bernhard hat mir vor einer Stunde bestätigt, dass er mit deinem Gesundheitszustand sehr zufrieden ist. Er sieht keinen Grund,
warum du nicht in ein paar Monaten als geheilt entlassen werden könntest.«
»Ich werde Adrian nicht heiraten«, entgegnete Mathilde fest. »Und schon gar nicht, nur weil du es
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