Bildnis eines Mädchens
schlug
die Beine unruhig übereinander und nestelte an seiner Weste.
Sie setzte sich zögernd neben ihn. Warum redete er immer mit ihr, als sei sie ein Kind oder als müsse er ihr etwas befehlen?
»Es ist besser, du gehst fort von hier«, sagte er ohne jede Überleitung.
In Nikas Ohren begann es zu sausen. Es war, als ob ein Sturm losbräche, als ob ein Wind in hohen Tönen sang undheranbrauste mit solcher Gewalt, dass man keine Luft mehr bekam. Dann kehrten die Bilder zurück, ja, da saß Segantini, aber
alles drehte sich und kam erst langsam wieder zum Stillstand.
»Ist dir nicht gut?«, fragte Segantini und ergriff ihren Arm.
»Nein, mir ist nicht gut«, murmelte Nika und stand auf. Segantini zog sie auf die Bank zurück.
»Warte, Nika. Ich will dir sagen, was geschehen ist. Andrina Biancotti ist zur Baba gegangen und hat ihr erzählt, du machtest
dich auf unverschämte Weise an mich heran, und es sei schon so weit, dass ich dich, wann immer möglich, besuche.«
Nika hörte teilnahmslos zu.
»Nika«, er schüttelte sie. »Baba ist nicht zu mir damit gekommen, sondern hat Bice davon erzählt. Die hat sich verständlicherweise
nicht darüber gefreut. Ich liebe Bice und brauche sie. Du musst gehen. Bice verlangt es, auch wenn ich ihr tausendmal sage,
dass nichts geschehen ist zwischen uns. Nika?«
Nika rührte sich nicht.
»Es ist besser, du gehst fort. Ich denke immerzu an dich«, sagte er stockend. »Das ist wahr, aber gut ist es nicht. Für uns
alle nicht. Sag etwas!«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich kenne deine Geschichte«, fuhr er fort, »ich wollte etwas für dich tun. Du bist begabt, du hast ein anderes Leben verdient
als das, das dir zugefallen ist. Ich weiß sehr gut, wie das ist.« Er suchte ihren Blick. »Es hat mein eigenes Leben gerettet,
dass ein Mensch in der Besserungsanstalt in Mailand, in die sie mich steckten, nachdem die Polizei mich wegen Landstreicherei
aufgelesen hatte … Es hat mich gerettet, dass dort ein Mensch meine Begabung fürs Zeichnen und Malen erkannt hat. Sie wollten mich zum Schuster
machen, nur, ich taugte nicht dazu, Schuhe zu besohlen. Doch sie ermöglichtenmir auch zu zeichnen. Und das, verstehst du, die Kunst wurde meine Heimat. Ich wollte dir zeigen, dass Menschen wie du und
ich in der Kunst eine Heimat finden können. Mein Bruder starb in dem Jahr, in dem ich geboren wurde, dann starb meine ständig
kranke Mutter, mein Vater ließ mich in dem schrecklichen Mailand bei einem fremden Menschen zurück, der nichts mit mir anfangen
konnte.«
Segantinis Blick verlor sich in der Ferne. Schatten legten sich langsam über die Bucht von Maloja. Wie gut er das alles kannte,
wie viele tausende Male er es beobachtet hatte. »Damals, als Kind, lief ich davon, immer wieder und immer auf der Suche nach
einem Ort, an dem mir wohl war, auf der Suche nach Heimat. So wie du. Und dann, ausgerechnet in der Besserungsanstalt, im
Riformatorio Marchiondi, begriff jemand, dass ich Talent hatte. Dass darin die einzige Heimat lag, die ich finden konnte.
Das einzige Heilmittel gegen die Einsamkeit. Glaub mir, Nika, die Liebe taugt für vieles, aber gegen die letzte, tiefe Einsamkeit
hilft auch sie nicht. Aber jeder Mensch hat irgendeine Begabung. Für Menschen wie uns ist es besonders wichtig, sie zu entdecken.«
Er schüttelte sie sanft an den Schultern. »Begreifst du nun, dass ich dich sehr gut verstehe? Muss man sich nicht lieben,
wenn man so viele schmerzliche Erfahrungen teilt? Wer kennt das sonst schon: die Verlassenheit, die wie ein Meer ohne Ufer
ist.«
Jetzt lächelte Nika, und Segantini legte erleichtert seinen Arm um sie. »Ich wollte, du könntest aufblühen wie eine Alpenrose.
Ich liebe diese Blume, sie ist stark und zäh und voller Glut. Du bist stark. Menschen wie du und ich sind stark. Sonst wären
wir schon als Kinder gestorben, als wir zurückblieben und nur noch die Einsamkeit da war. Hörst du mich?«
Sie nickte und stand auf. »Ich muss zur Arbeit.«
»Warte noch einen Moment! Nika! Unsere Wege haben sichhier gekreuzt. Aber sie müssen auseinanderführen. Nicht nur, weil ich dich jetzt bitte wegzugehen. Mein Weg führte von der
Ebene hinauf, aus dem Lärm in die Höhe, in die Stille. Ich möchte die Natur in immer schlüssigerer, einfacherer, vergeistigter
Form darstellen. Du bist jung. Du musst zuerst hinunter in die Welt …«
»Ja«, sagte Nika. »Aber ich lasse mich nicht wegschicken, nur weil dir das
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